Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Wilfrieds Schulzeit und Jugend

Es ist das Jahr 1965, August, und Wilfried ist zu Hause bei seinen Eltern. Dort war er in den letzten Jahren nur in den Ferien, denn seine Eltern hatten ihn nach der 5. Klasse auf ein katholisches Internat geschickt, er sollte Priester werden. Das Internat lag im Rheinland, schön im Grünen, nahe einer Burg. Wilfried teilte sich dort ein Zimmer mit drei anderen Jungen, er hatte den unteren Teil eines Etagenbettes und einen schmalen Hochschrank für sich.

Hier war der Tagesablauf genau geregelt. Aufstehen um halb sechs, Frühmesse, Studium, Frühstück, Schule, Mittagessen, 2 Stunden freie Zeit, das hieß meist Ballspiele draußen, Hausaufgaben im Saal, Abendessen, Studium, Schlafen. Aber Wilfried kam damit zurecht. Eigentlich hätte er zufrieden sein können, es gab auch Ausflüge, Sport, Gesang, jedoch das Lernen fiel ihm schwer; obgleich er doch, wenn er nachmittags wie alle Schüler in dem großen Saal seine Hausaufgaben machte, Hilfe herbeirufen konnte.

Am Anfang war es noch gut gegangen, denn er hatte ja ein Jahr Vorsprung vor den anderen. Doch dann hatte er sich durchgeschleppt, oder vielmehr, war er durchgeschleppt worden, durch Latein, Griechisch, Mathematik, denn an Priestern herrschte Mangel, und einen willigen Fisch wollte man möglichst an der Angel behalten. Schließlich, er hatte bereits das neunte Schuljahr begonnen, entschlossen sich seine Eltern, für ihn eine Lehrstelle zu finden. Das war kein Problem, denn er hatte ja den Volksschulabschluss mit der Versetzung in die neunte Klasse erworben, und sie fanden für ihn eine Banklehre.

In letzter Zeit hatte er sich auch nicht mehr wohlgefühlt in dem Internat. Einmal hatte ihm Pater Anselm, bei dem sie Sport hatten, eine neue Sporthose besorgt, und bei der Anprobe hatte er ihn an allen möglichen Stellen betastet, um zu sehen, ob sie auch passte, obgleich Wilfried das auch so hätte beurteilen können. Ein andermal, als Wilfried nach dem Sport als letzter in der Umkleidekabine war, kam Pater Anselm herein und musste sich unbedingt davon überzeugen, dass Wilfried sich gründlich gewaschen hatte. Er betastete ihn überall, was bei Wilfried verwirrende Gefühle hervorrief. Das Ganze war Wilfried peinlich, und er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, traute sich aber auch nicht, darüber zu reden. Der Fehler lag sicher bei ihm.

Als erstes musste er nun mit seiner Mutter passende Kleidung für seine neue Tätigkeit kaufen, denn die war Bedingung für den neuen Job.

In der Stadt trafen sie Hans vor dem Rialto-Kino, wo er sich die Kino-Reklame ansah.

„Hallo, Wilfried, guck mal, hier läuft ‚Help‘ mit den Beatles. Da würde ich gerne rein, aber ich habe das Geld nicht.“

„Ach, so sehen die aus“, sagte Wilfried. Er hatte den Namen ‚Beatles‘ im Zusammenhang mit ‚Beatlesmähne‘ eher abschätzig von den Lehrern gehört. Die singen doch nur ‚Yeah, yeah, yeah‘ hatten sie gesagt, richtig singen können die gar nicht.

„Ja, kennst du die nicht?“

Wilfried musste dies verneinen. Er hatte kein Transistorradio, mit dem er abends im Bett Radio Luxemburg oder Radio Hilversum empfangen konnte. Und im Internat wäre es wohl sowieso nicht erlaubt gewesen.

„Komm vorbei, ich spiele dir was vom Tonband vor.“

An diesem Spätnachmittag hörte Wilfried zum erstenmal die Musik der Beatles, aber sie war nicht nach seinem Geschmack. Er war geistliche Musik oder so etwas wie die ‚Carmina Burana‘, die sie auch im Internat aufgeführt hatten, gewohnt. Hans konnte ihn nicht von seiner Musik überzeugen. Wilfried schien irgendwie in seiner Zeit stehengeblieben zu sein und die neue Zeit nicht mitbekommen zu haben.

„Wie geht es bei dir in der Schule?“, fragte Wilfried.

„Och, ganz gut“, sagte Hans.

„Ist es nicht so schwer?“, wollte Wilfried wissen, und er erzählte Hans von seinem Abgang vom Internat.

„Ihr hattet ja auch Griechisch, oder auch Hebräisch? So etwas Schweres haben wir nicht. Vielleicht wärst du besser hier geblieben.“

„Du weißt, meine Eltern“, sagte Wilfried.

„Bei uns sind sieben sitzengeblieben“, sagte Hans. „So geht es jedes Jahr, aber wir kriegen immer Neue von oben.“

An der Haustür klingelte es. Es war Hartmut. Er trug einen Riesenwindvogel.

„Kommt ihr Samstag mit ins Stadion ‚Rote Erde‘?“

„Ich muss mal gucken“, sagte Hans, „wie teuer ist es denn?

„Es ist nicht teuer. Es gibt Schülerpreise. Und du, Wilfried?“

„Ich nicht. Es ist doch kein echter Sport. Es geht doch nur um’s Geld.“

Hartmut war sich nicht sicher, ob das stimmte. Bestimmt nicht für alle Spieler, einige spielten, so meinte er, für Ruhm und Kameradschaft. „Kommt, wir starten mal den Vogel.“

Am Samstag holte Hartmut Hans mit dem Fahrrad ab. Sie hatten Proviant dabei und waren sehr zeitig im Stadion, um sich einen guten Platz hinter einem Wellenbrecher zu sichern. Es spielte heute Borussia Dortmund gegen Neunkirchen. Aber zunächst einmal hieß es warten. Sie verzehrten ihren Proviant und hörten dabei ‚Die Großen Acht‘ auf Radio Luxemburg. Hartmut hatte sein Kofferradio mitgebracht, er verdiente ja schon Geld. Nummer 1 der bestverkauften Singles in Deutschland in dieser Woche war ‚Help‘ von den Beatles. Sie drehten den Song ganz laut auf, als er gespielt wurde. Dann begannen die Vorspiele der Jugendmannschaften. Als es mit der Bundesliga endlich losging, hatte sich das Stadion gefüllt, und einige Zuschauer begannen, auf die Bäume ringsum und auf das Stadiondach zu klettern. Der Stadionsprecher forderte sie auf, sofort hinabzusteigen. Das Spiel endete 1:0 für Dortmund.

Hartmut hatte nach Beendigung der Volksschule eine Elektrikerlehre begonnen und fühlte sich ganz wohl dabei, während Hans mit drei Mark Taschengeld in der Woche auskommen musste. Manchmal hatte er Zweifel, ob er nicht auch besser auf der Volksschule geblieben wäre. Für Elektrotechnik hätte er sich auch interessiert. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, er musste durchhalten bis zum Abitur. Das war gar nicht so einfach, die Fallstricke lagen überall. In den sogenannten mündlichen Fächern gab es keine Tests, man wurde nur ein- oder zweimal abgefragt im Halbjahr, und wenn man da auf dem falschen Fuß erwischt wurde, …. Also entwickelte man eine Art ‚Siebenten Sinn‘, um abzuschätzen, wann man besonders lernen musste. Zum Beispiel in den Naturwissenschaften.

„Mir kurz klargemacht Vorgänge im Gloverturm“, sagte der Chemielehrer zu ihm, als er dran war. Ein andermal: „Mir mal erklärt die Loschmitzsche Zahl.“ Er sprach gern im Passiv.

Der neue Physiklehrer kam mit einem Brett in die Klasse, auf dem eine Glühbirne und eine Batterie befestigt waren.

„Was sehen wir hier?“

Hans meldete sich. „Da fließt Strom durch den Draht und erhitzt ihn, dass er leuchtet.“

„Nein, nein, wer weiß es?“ Niemand meldete sich.

„Was ist denn mit dieser Klasse los? Was sehen wir denn hier? Wir sehen doch hier zunächst ein Brett. Und auf dem Brett sehen wir eine Glühbirne. Warum sagt das denn keiner?“

Es gab auch eine Reihe von Schülern, die nur darauf aus waren, Quatsch zu machen. Dietmar brachte gern Nießpulver mit; im Musikunterricht, wenn der Lehrer, am Flügel sitzend, ein Lied anstimmte, blies er es umher. Manche versteckten die Taschen anderer Schüler oder zertraten Stinkbomben, andere sperrten Mitschüler in Schränke. Die Lehrer hatten auch ihre Eigenarten. Der Deutschlehrer Dr. Kranz las jede Stunde Anekdoten aus dem ‚Tollen Blomberg‘ vor. Andere Lehrer erzählten von ihren Kriegserlebnissen, von der Gefangenschaft.

Im Englischunterricht lasen sie ‚Animal Farm‘ von George Orwell. Das war eine Parabel, die jeder verstand, sie hatte mit dem wirklichen Leben zu tun. Sie sahen auch den dazugehörigen Zeichentrickfilm mit der beeindruckenden Szene am Schluss, wo die Schweine, die sich zu Diktatoren aufgeschwungen hatten, menschliche Züge annahmen und plötzlich Krawatten trugen.

Jahre später, es muss Ende der 70er Jahre gewesen sein, als Hans im Fernsehen die chinesische politische Führungsspitze zum ersten Mal mit einer Krawatte sah statt in der gewohnten Mao-Kluft, war es ein Schock für ihn. Hatten sie denn das Buch nicht gelesen, dass sie sich so outeten?

Hans saß oft stundenlang am Radio und versuchte die englischen Texte der Bands zu verstehen. Er verstand sie immer nur bruchstückhaft, meist ging es um Liebe, das war einfach, aber neuerdings gab es Texte, in denen es um anderes ging:

Hey, Mr Tambourine Man

Take me on a trip upon your magic swirling ship

My senses have been stripped My hands can’t feel to grip

My toe`s too numb to step

Waiting only for my boot heels to be wandering. 1

Was sollte das heißen? Und der Song war doch Nummer eins in der Hitparade.

Und dieser auch:

You’ve gone to the finest school all right, Miss Lonely

But you know you only used to get juiced in it

Nobody’s ever taught you how to live out on the street

And now you’re gonna have to get used to it. 2

Und dieser:

The Eastern world, it is explodin’

Violence flarin’, bullets loadin’

You’re old enough to kill, but not for votin’

You don’t believe in war, but what’s that gun you’re totin’? 3

Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Die Verhältnisse waren ihm klar erschienen: Es gab die Guten und die Bösen, zum Beispiel in Vietnam, und auch in Deutschland. Man konnte sich jeden Tag davon im Radio und Fernsehen überzeugen. Aber in diesen Songs schien es noch ein Zwischending zu geben. Dieses Zwischending fand sich nicht in der Welt der Erwachsenen und ihren Medien. Dort stieß man nur auf eine Abwehrmauer. Hier schien sich etwas Neues anzubahnen, und darauf hatten die Älteren keinen Zugriff. Den Code hatten nur die Jungen, schon durch die Sprache.

Während bei Hans die Kluft zwischen der Erwachsenenwelt und ihm mit jedem Tag wuchs, war sie bei Wilfried nicht so ausgeprägt. Die beiden sahen sich jetzt nur noch ab und zu. Einmal war Hans bei ihm zu Besuch, es lief Karnevalsmusik von ihrem neuen Plattenspieler; ja, sie hatten jetzt einen Plattenspieler. Im Nebenraum hörte man Gerlinde mit ihren Eltern diskutieren. Sie war jetzt wieder ab und zu zu Hause zu Besuch, wohnte aber mit einer Freundin zusammen in der Stadt.

„Worum geht es da?“, fragte Hans.

„Ach, ich glaube, sie will ihren Freund nicht heiraten.“

„Wozu?“

„Sie bekommt wohl ein Kind von ihm.“

„Und deine Eltern …“

„Du kennst doch meine Eltern.“

Die Stimmen wurden lauter. Türen schlugen.

„Von mir bekommst du dafür kein Geld“, rief der Vater.

„Dann besorg ich es mir woanders“, rief Gerlindes Stimme.

„Ewige Verdammnis“, war die Antwort, „du bist meine Tochter nicht mehr.“

Die Haustür knallte, und es war ruhig.

Wilfried und Hans sahen sich verstört an, rätselten, wie sie das Gehörte zu verstehen hatten.

Schließlich sagte Wilfried: „Ich hätte auch gerne eine eigene Wohnung; vielleicht nach der Lehre, wenn ich mehr verdiene.“

„Davon kann ich nur träumen“, sagte Hans. „Noch vier Jahre bis zum Abitur, und dann, ich weiß nicht. Ich trage jetzt Zeitschriften aus, jeden Samstag, das gibt ein schönes Taschengeld.

Ach, ich wollte dir das hier zeigen.“

Er zog eine ‚Bravo‘ aus seiner Jacke.

„Guck mal, die Texte der neuen Beatles LP.“

Wilfried warf einen kurzen Blick darauf. „Du weißt doch, mein Englisch ist nicht so gut. Wir sind doch mit Latein angefangen.“

Das hatte Hans vergessen.

Wolf, der eine Klasse unter Hans war, klingelte an der Haustür. Er war Nachbar von Wilfried. Unter seinem Arm trug er einen Stapel Schallplatten. Sie gehörten seinem älteren Bruder.

„Ihr habt doch einen neuen Plattenspieler“, sagte er.

So klang dann der Nachmittag aus.

Am nächsten Mittag, als Hans von der Schule mit dem Fahrrad nach Hause kam, sah er vom Flur aus, dass Gerlinde bei seiner Mutter war.

Ich danke dir, hörte er Gerlinde sagen, und, du kannst dich auf mich verlassen.

Sie ging durch den Flur zur Haustür. „Ach, du bist hier“, sagte sie zu Hans, und verschwand. Hans ging in die Küche.

„Was wollte sie?“

„Gerlinde braucht dringend Geld.“

„Gibst du es ihr?“

„Ja. Ich hab doch noch die Reserve von meinen Eltern. Sie zahlt es mir jeden Monat stückchenweise zurück.“

Hans traute sich nicht zu fragen, wofür Gerlinde das Geld so dringend benötigte, aber er hatte eine dunkle Ahnung. Es musste irgendetwas mit Frauen zu tun haben.

Er ging auf sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und griff zu seinem Buch Durch die Wüste von Karl May. Nach wenigen Minuten war er in einer anderen Welt, er ritt auf einem Kamel in Richtung einer Oase, wo er hoffte, denjenigen zu treffen, der seinen Freund um sein Vermögen gebracht hatte. Die größte Mittagshitze war vorüber, die Sonne ging schon dem Horizont entgegen, und ein angenehmer Wind kam auf, und in der Ferne sah man das Minarett.

Er kam in die Realität zurück, als sein jüngerer Bruder mit einem Marmeladenglas in der Hand hereinkam, in dem er einen Frosch gefangen hielt. Für den musste nun ein Quartier gefunden werden.

1 Bob Dylan, Mr. Tanbourine Man

2 Bob Dylan, Like a Rolling Stone

3 Barry McGuire, Eve of Destruction

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