Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Hans Abitur und Studienbeginn

Demonstration – wozu das? Der Volkswille äußerte sich doch in Wahlen und den daraus hervorgehenden Repräsentanten, also konnte das nur etwas gegen den Volkswillen sein, rein logisch betrachtet. Straßenbahnschienen besetzen – warum sollte für eine Straßenbahnfahrt kein angemessenes Entgelt verlangt werden? Das war nicht logisch.

Die Zeit vor Hans‘ Abitur war von allerlei politischen Umwälzungen begleitet, die ihre Spuren in heftigen Diskussionen im Klassenzimmer hinterließen. Der Deutschlehrer verlangte von jedem Schüler einen ‚Besinnungsaufsatz‘. Was darin zu stehen hatte und wozu der diente, war nicht ganz klar. Aber jeder wusste, was darin  n i c h t  zu stehen hatte. „In Kirche, Schule, Universität und Armee kann es keine Demokratie geben“, hatte der Deutschlehrer gesagt, und: „Rudi Dutschke, ein Teufel“.

Themen zum Diskutieren gab es genug, zum Beispiel, ob Abtreibung straffrei sein sollte oder nicht. ‚Pillen-Paul‘ hatte gerade seine Enzyklika veröffentlicht. Aber vor allem das Thema ‚Bundeswehr oder Zivildienst‘ war von Interesse. Das Bundesverfassungsgericht hatte abgesegnet, dass die Zivildienstzeit länger sein durfte als die Bundeswehrzeit, obwohl in der Verfassung ausdrücklich das Gegenteil stand. Anscheinend gab es in diesem Land also keine Gewaltenteilung wie von Montesquieu gefordert, wie sie es im Geschichtsunterricht gelernt hatten. Und die sollte doch eine der Säulen der Demokratie sein.

Horrorgeschichten über schikanöse ‚Schleifer‘ bei der Bundeswehr machten die Runde. Einige von denen, die verweigern wollten, entdeckten ihre religiösen Gefühle neu und machten Termine bei ihrem Pfarrer, um sich für das Verhör bei der Prüfkommission beraten zu lassen.

„Macht ihr doch, was ihr wollt. Ich verpflichte mich für 8 Jahre“, sagte Jürgen, „die Bundeswehr finanziert mein Studium, und danach habe ich beste Aussichten auf einen Job in der Wirtschaft.“

Nur 50% der Abitur-Klasse würden schließlich bei der Bundeswehr landen, die anderen setzten sich rechtzeitig nach Schweden oder Berlin ab, waren untauglich, verweigerten, hatten Beziehungen oder, noch besser, eine andere Staatsangehörigkeit. Kuriose Dinge ereigneten sich da, die Fettleibigen wurden eingezogen, die Sportler untauglich geschrieben. Hans schaffte es mit einem Stapel von Attesten bezüglich seiner Sehschwäche.

Wilfried absolvierte den allgemeinen ‚Wehrdienst‘ und erzählte an den Wochenenden, wenn er auf Heimaturlaub war und sie beim Bier saßen, von den Strapazen und dem ‚Zusammenprall der Kulturen‘. Die Dümmsten waren dort mit den Klügsten zusammen, sagte er. Einmal, als ‚general alert‘ ausgegeben war, kam jemand zu ihm auf die Stube gelaufen und rief: „Räum auf, General Alert kommt!“ Aber gemeinsam war allen, dass sie dort das Trinken und Rauchen lernten.

Hans hatte das Abitur hinter sich gebracht. Von den 48 acht Jahre zuvor eingeschulten Sextanern, es gab ja ein ‚Kurzschuljahr‘ dazwischen, hatten 8 überlebt, 8 Neue waren im Laufe der Zeit dazugekommen und geblieben.

6% des Jahrganges in Westdeutschland machten in diesem Jahr das Abitur. Im Grunde gehörte er nun zu einer Elite, aber es fühlte sich nicht so an. Es mussten die richtigen Entscheidungen bezüglich des Studienfaches und des Ortes gefällt, ein Job für den Sommer gefunden werden. Dennoch war es ein Gefühl der Befreiung in den ersten Monaten nach der Prüfung. Die Welt schien offen, alles möglich: den Ort zu leben frei zu wählen, das Studienfach; eine politische Meinung zu vertreten ohne Zensur. Es war da nur die finanzielle Beschränkung.

Einige Klassenkameraden hatten schon einen Führerschein, und man konnte gemeinsame Spritztouren unternehmen – mit dem Auto ihrer Eltern. In Düsseldorf gab es in diesem Sommer eine ‚Teenage Fair‘, eine Messe, auf der Produkte speziell für Teenager vorgestellt wurden. Eine interessante Ausstellung, die man mit einem Besuch in der Düsseldorfer Altstadt verbinden konnte. Dort war ein Laden, in dem hinter einer großen Fensterscheibe eine sogenannte ‚Pizza‘ vor den Augen des Publikums zubereitet wurde. Ein südländisch aussehender Mensch, vermutlich ein Italiener, warf einen Teigklumpen in die Luft, indem er ihn dabei drehte, immer wieder, bis er eine Scheibe war. Diese wurde mit verschiedenen Lebensmitteln belegt und dann in einen Ofen geschoben, der Hans an das Märchen von Hänsel und Gretel erinnerte. Diese Speise kannte Hans bis dahin nicht. Vor dem Laden stand eine große Menschentraube.

Im Staate New York gab es in diesem Sommer ein Festival mit einigen der besten Rockbands bei einem Ort namens ‚Woodstock‘; wenn man nur das Geld gehabt hätte, hinzufahren.

Der erste Tag an der Ruhr-Universität war wie ein Schock für Hans. Als er am Bochumer Hauptbahnhof aus der Straßenbahn stieg, stieß er auf einen Zug Demonstranten mit Schildern: ‚Amis raus aus Vietnam‘, die ihn gleich zum Mitgehen aufforderten. Dann, in der Uni, in der Mensa bogen sich die Tische unter den Flugblättern aller möglichen Gruppierungen. Eins forderte die ‚sexuelle Befreiung’ a la Wilhelm Reich und lud zu einer Diskussion ein, eine ‚KPD/ML‘ rief zur Revolution auf – durften die das? Andere boten Informationen zur Transzendentalen Meditation, manche wiesen auf Veranstaltungen und Konzerte hin. Wieder andere forderten den sofortigen Abzug der Amerikaner aus Vietnam. Persönliche Probleme können gesellschaftliche Ursachen haben, las Hans auf einem Flugblatt. Der Gedanke war neu für ihn. Das Fach Sozialwissenschaften hatte es am Gymnasium nicht gegeben, dafür reichlich Geschichte und Religion.

Auch am nächsten Tag waren die Tische wieder voll. Es gab eine Menge Meinungen und Sichtweisen jenseits der in den gängigen Medien propagierten. Warum war er früher darauf nicht gestoßen, wo er doch alles, was er in die Finger bekam, gelesen hatte? Konnte man die gängigen Medien noch ernst nehmen? Sicher, es hatte mal ein Interview mit Rudi Dutschke im Fernsehen gegeben, wo ausnahmsweise die Ansichten der ‚Außerparlamentarischen Opposition‘ ungefiltert vorgetragen werden durften. Den Ansichten, die Dutschke dort äußerte, konnte Hans aber auch nicht unbedingt zustimmen. Da zeigte sich die Ambivalenz revolutionärer Bewegungen, von denen man froh ist, dass es sie gibt, weil sie verkrustete Strukturen aufbrechen, die aber eine Eigendynamik entwickeln, in der Personen, die man überhaupt nicht haben will, nach oben gespült werden.

Die Staatsmedien waren auf jeden Fall einseitig, fand Hans, selbst die Rockmusik wurde von ihnen mit Ausnahme einiger Zugeständnisse boykottiert, man musste dazu ausländische Sender hören. In seinem Zimmer hatte er eine Antennenkonstruktion gebaut, über die jeder stolperte, der das Zimmer betrat, mit der er aber Radio Hilversum und Radio Luxemburg auf UKW empfangen konnte.

Der Hörsaal der Vorlesung ‚Einführung in die Volkswirtschaftslehre‘ war gefüllt mit 500 Studenten, Hans erkannte einige ehemalige Schüler aus seiner Schule wieder. Der Professor dozierte unten in der Ferne. Er drückte abstrakte Gedanken in Form von Kurven im Koordinatensystem aus und behandelte sie mathematisch, und es war von Vorteil, wenn man mit Mathematik auf freundschaftlichem Fuße stand.

Als die Vorlesung seit zehn oder fünfzehn Minuten im Gange war, erschien der dicke Heinz Müller aus Hans‘ Parallelklasse. Der Hörsaal war voll, aber er erspähte einen freien Platz vorne in der dritten Reihe in der Mitte. Er ging die Treppe hinunter bis  nach unten und kletterte über die unteren beiden Bankreihen auf den anvisierten Platz zu, dabei grinste er die ganze Zeit. Er war ungelenkig und stolperte ein paarmal, bevor er unter lautem Beifall der Studenten den freien Platz erreichte. Der Professor musste seinen Vortrag unterbrechen und auf Heinz warten. Ja, Heinz Müller genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, und wenn es als Clown war, aber Hans war es sehr peinlich, dass  er von seiner Schule kam und sah sich ängstlich um, ob ihn nicht jemand mit ihm in Verbindung brachte. Aber das war nicht der Fall.

Am Nachmittag ging Hans zu der Veranstaltung über Transzendentale Meditation, denn er wollte wissen, wie das funktionierte. Sie fand in einem Raum der Uni statt, und es waren etwa zwanzig Interessenten da.

„Die TM ist eine Methode der Entspannung“, sagte die Leiterin, „sie hilft euch auch, euch besser zu konzentrieren.“
„Die TM wirft den einzelnen auf sich selbst zurück, sie dient doch nur der Ablenkung vom Klassenkampf“, sagte ein Teilnehmer.
„Das stimmt nicht. Du kannst die TM ausüben und trotzdem politisch aktiv sein“, antwortete sie. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel. Nach einer Dreiviertelstunde wusste Hans immer noch nicht, wie die TM funktionierte und verließ die Veranstaltung, um seine Mitfahrgelegenheit nicht zu verpassen.

Hans besuchte noch eine Veranstaltung über ‚Ausbeutung und Klassenkampf‘, auf die ein Flugblatt hingewiesen hatte. Dort wurden Kapitel aus dem ‚Kapital‘ von Karl Marx gelesen und interpretiert. Hans fand, dass dort die Zusammenhänge komplizierter als nötig dargestellt wurden und so schwer verständlich blieben, er ging nicht mehr hin.

In den folgenden Wochen lebte Hans sich in das Studentenleben langsam ein. Er hatte eine Studentenbude gefunden, und seine Wirtin hatte ein Töchterlein, dem er Nachhilfe in Mathematik gab. In der Uni-Cafeteria in den Vorlesungspausen erlernte er das Doppelkopf-Spiel, was sich als eine nützliche studienbegleitende Fertigkeit erwies. Unterhaltung gab es in diesem Vorort Bochums nicht viel, aber jeden Mittwoch zeigte der ‚Studienkreis Film‘  Filme von Polanski, Bunuel, Fellini, Visconti, Antonioni, Pasolini, Godard, und eine neue Welt tat sich auf; es gab also Filme jenseits der Freitag-Abend-Krimis und der Hollywood Schinken.

Wenn Hans so die Flugblätter auf den Mensatischen las mit ihren teilweise extremen Ansichten, so stellte er sich unwillkürlich die Frage: Wer hat Recht? Und er konnte nicht umhin, die Ansichten zu vergleichen, mögliche Konsequenzen in Gedanken weiterzuspinnen, den Leuten zuzuhören, die diese Ansichten vertraten. Im Laufe der Zeit konnte er so eigene Positionen entwickeln und sie modifizieren, wenn er auf neue Informationen stieß.
Inzwischen gab es auch Zeitschriften, die kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn sie Politiker kritisierten, allen voran die Satirezeitschrift Pardon. Ab und an verhinderte die Zensur eine Auslieferung, aber das steigerte nur die Auflage der nächsten Nummer. Eine Ausgabe zeigte auf der Titelseite Papst Paul VI mit einer nackten Frau auf den Schultern, die eine Pille zwischen den Fingern hielt. In der Sprechblase stand: ‚Aber Grete, ich habe es doch verboten!‘

Kurz nach seinem Einzug in die neue Studentenbude tauchten die Freunde Wilfried und Hartmut bei ihm auf. Hartmut hatte inzwischen ein eigenes Auto, einen Kleinwagen zwar, aber immerhin. Neben ihren Schlafsäcken und Informationen aus der Heimat hatten sie Haschisch mitgebracht.
„Wo habt ihr das her?“ fragte Hans.
„Mein Cousin hat es von jemandem, der in Amsterdam war“, sagte Hartmut.
Der Brocken wurde fein zerkrümelt und in Zigaretten eingedreht.
„Hoffentlich kriegt deine Vermieterin das nicht mit“, sagte Hartmut.
„Bis unten zieht es wohl nicht“, sagte Hans.
Er wohnte im ersten Stock und sie im Erdgeschoss. Nach ein paar Zügen schienen sie in einer anderen Welt zu sein, und sie wurden sehr lustig. Es war illegal, das wussten sie, aber es war auch ein Zeichen des Protests gegen die Obrigkeit. Der Umgang der Regierungen mit den Drogen war für sie ein Gradmesser für die Liberalität eines Staates. Und hier standen Holland und die skandinavischen Länder an der Spitze, mit denen sich Deutschland messen lassen musste und in ihren Augen ungünstig abschnitt.
Am nächsten Tag traf Hans seine Vermieterin im Hausflur.
„Charlotte schreibt diese Woche eine Klassenarbeit in Mathematik, können Sie ihr vielleicht helfen, sie hat noch nicht alles verstanden“, sagte sie.
Sicher konnte Hans das.
„Es kam gestern so ein strenger Geruch von oben herunter“, fuhr sie fort, „ich wollte schon kommen und nachsehen, ob etwas angebrannt war.“
Hans konnte sie beruhigen. Zum Glück war der Geruch von Haschisch damals dem Normalbürger noch unbekannt.
Als Charlotte am nächsten Tag zur Nachhilfestunde zu ihm heraufkam, sagte er:
“Sag deiner Mutter, dass es mir Leid tut wegen des Tabakgeruchs neulich.“
Er erntete nur ein unverschämtes Grinsen.

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