Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Vorbemerkung

Nichts hat einen Anfang. Für alles, was uns begegnet, gibt es eine Vorgeschichte. Dies gilt in besonderem Maße für das eigene Leben. Vertraut sind uns nur die Eltern, vielleicht noch die Großeltern, zu denen wir regelmäßig Kontakt hatten. Aber die anderen Verwandten, insbesondere aus früheren Generationen und deren Rolle in der Gesellschaft, entziehen sich leicht der Kenntnis wie eine entfernte Landschaft hinter einer Nebelwand, die nur für einige Momente und nie in der ganzen Breite sichtbar wird.

Robert Beckmann ging es nicht anders. Die Familie seiner Mutter stammte aus Lübeck. Sein Urgroßvater hatte sich gegen den Willen der Eltern für eine nicht standesgemäße Frau entschieden. Deshalb wurde nicht ihm, sondern einem jüngeren Bruder die Leitung der Braunbierbrauerei der Familie übertragen. Er wurde mit einem Bauernhof in Pansdorf und dem Biervertrieb im Lübecker Umland abgefunden.

Roberts Vater stammt aus Wismar. Der Urgroßvater soll als Gärtner auf den großen Gütern in Pommern und Mecklenburg gearbeitet haben. Ein schwieriger Mann, der nach jeder Wahl entlassen wurde, weil die eine, gegen die Empfehlung der Gutsverwaltung abgegebene Stimme ihm zugeordnet wurde. Da er über einige Tüchtigkeit verfügte, fand er für sich und seine Familie danach aber rasch wieder eine Anstellung. Sein Großvater war bei der Hochzeit der Eltern bereits geboren. Die Vaterschaft an seinem Großvater hatte sein Urgroßvater aber erst anerkannt, als dieser bereits zwölf Jahre alt war. Robert konnte sich kein Bild von diesem Urgroßvater machen. Seine Mutter kannte noch nicht einmal dessen Vornamen. Sein Vater, den er später mal nach seinem Urgroßvater befragte, konnte oder wollte sich nicht an den Vornamen erinnern. Über die Verwandten, die er noch als Kind kennengelernt hatte oder über die er von seinen Eltern gehört hatte, wusste er wenig. Meist kannte er nur die Namen. Nur einigen konnte er einen Ort und einen Beruf zuordnen. So verliert sich seine Herkunft schon nach zwei Generationen. Er wuchs im hier und jetzt auf und kannte über die früheren Generationen seiner Familie nur unsichere Geschichten, die sich so, wie sie erzählt wurden, aber auch ganz anders zugetragen haben konnten.

Rahmenhandlung

Robert Beckmann hatte die letzten sieben Jahre in Berlin gearbeitet. Jetzt, zur Jahresmitte 2015 war er aus dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ausgeschieden. In der vergangenen Woche hatte ihm der Minister die Urkunde zu seiner Versetzung in den Ruhestand ausgehändigt. Damit war der letzte Abschnitt seines Berufslebens zu Ende gegangen und er konnte all die Aufgaben in Angriff nehmen, für die er in den letzten vierzig Jahren keine Zeit gefunden hatte. Als erstes wollte er seine Arbeitswohnung in Berlin auflösen und in die Region Hannover zurückkehren.

Die Vorbereitung auf den Umzug gehörte zu den Tätigkeiten, die er gewissenhaft aber ohne jedes innere Engagement begann. Noch lagen die zusammengeklappten Umzugskartons auf einem Stapel. Das Seidenpapier und die Rolle mit Vlies, die zum Einwickeln von Gegenständen aus Porzellan und Keramik sowie zum Schutz anderer empfindlicher Gegenstände vorgesehen waren, hatte er auf den Esstisch gelegt. Er nahm einen zusammengeklappten Umzugskarton vom Stapel, faltete ihn auseinander und steckte die Teile so ineinander, dass aus der Wellpappe ein stabiler Karton entstanden war. Zuerst wollte er seine Bücher und Haushaltsgegenstände verpacken, bevor er Schränke und Bett zerlegen konnte, um sie für den Umzug vorzubereiten. Als letztes wollte er die Lampen abbauen.

Im Bücherregal lagen mehrere Fotoalben übereinander in einem Stapel. Das oberste Album stammte offensichtlich noch aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Robert hatte das Album bei der Auflösung der elterlichen Wohnung an sich genommen. Es enthielt ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotos, viele aus der Zeit als seine Eltern noch Kinder oder Jugendliche waren und bei seinen Großeltern lebten. Als er das Album vom Stapel nahm und darin blätterte, fielen mehrere lose Fotos heraus, die sein Vater vermutlich 1956 am Strand von Seebad Ahlbeck aufgenommen hatte.

Kapitel 01

Kapitel 01

Die 50er Jahre in Ostwestfalen

- Dringenberg 1951 -

Während Robert Beckmann am Ostseestrand die Vorzüge des real existierenden Sozialismus in einem Arbeiter- und Bauernstaat genoss, wuchs Benedikt Furstpaul, kurz nur Benni genannt und gerufen, im ländlichen Ostwestfalen auf. Seine Eltern stammten beide aus dem kleinen Dorf Johnsdorf in…

von Edgar von Leipheim 23/12/2023
Kapitel 01

Das Meer im Winter

- Seebad Ahlbeck 1956 -

Die früheste Erinnerung aus Roberts Kindheit war die an einen großen braunen Käfer, der über einen gepflasterten Gehweg lief, während er ihn durch die Lupe seines Vaters beobachtete. Unter der Lupe konnte er alle Details des Maikäfers erkennen, die feingliedrigen…

von Leonard Lassan 18/12/2023
Kapitel 01

Wilfrieds Kindheit

- Dortmund 1956 -

Robert Beckmann fand unter den Fotos eines, das beim Urlaub seiner Familie am Plattensee aufgenommen wurde. Es zeigte ihn mit Wilfried Schanz im Alter von vielleicht 8 Jahren, das müsste ungefähr 1958 gewesen sein. Die beiden Familien hatten sich angefreundet,…

von Paul Berni
Kapitel 01

Der 55. Hochzeitstag

- Noorden 1950 -

Fünf Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs wurde Robert Beckmann in Seebad Ahlbeck geboren. Im selben Jahr feierten Nic und Dirkje ihren 55.Hochzeitstag. Natürlich hätte die Feier fünf Jahre früher stattfinden sollen, aber 1945 war wirklich kein guter Zeitpunkt. Zehn…

von Antonie Schäfer
Kapitel 01

Horsts Kindheit im Ruhrgebiet

- Gladbeck 1957 -

Auf den letzten Blättern des Fotoalbums entdeckte Robert Beckmann mehrere Bilder einer Familie aus dem Westen. Roberts Vater hatte Werner Andem, der ihm die Bilder geschickt hatte, während eines Berlin-Besuchs kennengelernt. Ein Foto zeigt die Kinder der Familie Andem, Horst…

von Claus Didburger 14/12/2023

Rahmenhandlung

Unter Roberts Couchtisch befand sich ein Ablageboden, auf dem sich ein ziemlich unordentliches Konvolut aus alten Zeitungen, Zeitschriften und Gegenständen angesammelt hatte, die an keinen festen Platz in seiner Einrichtung gehörten. Darunter war auch ein Kinderbuch, das „Land ohne Buchstaben“, das er für besondere Leistungen im Schuljahr 1959/60 von der Schule bekommen hatte. Damals hatte Robert mit seinen Eltern und Geschwistern noch in Seebad Ahlbeck gelebt. Nach dem Weihnachtsfest 1960 waren sie zu einer Reise nach Wismar aufgebrochen, um seine dort lebenden Großeltern zu besuchen. Er sollte sich ein Buch aussuchen, damit er während der Fahrt etwas lesen konnte. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er „Das Land ohne Buchstaben“ mitnimmt. „Das Buch habe ich doch schon gelesen“, hatte er eingewandt. „Man kann Bücher auch zweimal lesen“, hatte seine Mutter das Gespräch beendet. So bestimmt hatte er sie selten erlebt. Im Zug mochte er aber nicht lesen. Er schaute lieber aus dem Fenster und stellte sich vor, dass sie nicht zu den Großeltern nach Wismar, sondern zu einer Safari nach Afrika fahren würden. Als sie in Wolgast umstiegen, war er ziemlich verwundert. Seine Eltern hatten offenbar den falschen Anschlusszug gewählt. „Wir sind in den falschen Zug gestiegen, dieser Zug fährt gar nicht nach Wismar“, wollte er seine Eltern auf das Versehen aufmerksam machen. “Sei still und fragt nicht mehr“, beschied ihn seine Mutter in einem Ton, der keine weiteren Nachfragen zuließ. Sein Vater sah bewusst unbeteiligt aus dem Fenster, während seine beiden jüngeren Brüder zufrieden auf ihren Sitzen saßen und mit kleinen Modellautos spielten. Früher hatten sie auf Reisen höchstens ihren Teddy mitnehmen dürfen.

Robert hatte erkannt, dass sie nicht in den Zug nach Wismar, sondern in den Zug nach Berlin gestiegen waren. Im Frühjahr hatte er schon einmal seinen Vater nach Berlin begleitet. Berlin war eine faszinierende Stadt mit riesigen Häusern, viele im Stil der Villa Wartburg, in der ihre Wohnung in Ahlbeck lag. In Berlin hatte er mit seinem Vater das Naturkundemuseum besucht und das Skelett eines Brontosaurus bewundert. Im Pergamonmuseum hatten ihn das Ischtar-Tor mit seinen Löwenreliefs und die Skulpturen des Pergamonaltars tief beeindruckt. Auch die Geschäfte am Kurfürstendamm hatten ihn fasziniert. Sein Vater hatte sich für die Auslagen der Geschäfte nicht interessiert. Er hatte sich aber genau angesehen, zu welchen Kursen in den zahlreichen Wechselstuben Ostmark in Westgeld getauscht werden konnte und wie der Umtausch ablief.

Gegen Mittag waren sie wieder in Berlin. Am Bahnhof Friedrichstraße nahmen sie die S-Bahn in Richtung Potsdam, die sie aber schon am Bahnhof Zoo wieder verließen. Die Eltern gingen mit Robert und seinen Geschwistern zu einer Polizeistation, in der sie sich als Flüchtlinge zu erkennen gaben. Am Abend waren sie im Flüchtlingslager Marienfelde angekommen und in einem Raum mit Doppelstockbetten untergebracht worden. Noch sah vieles für Robert wie ein großes Abenteuer aus, aber er ahnte schon, dass nichts mehr so würde wie zuvor. Eines war jetzt schon anders. Er hatte das Vertrauen in die Aussagen anderer verloren. Wenn ihn schon seine Eltern über das Ziel der Reise belogen und seine Fragen mit ihrer ganzen Autorität abgewürgt hatten, warum sollte er dann jemals wieder den Aussagen anderer Glauben schenken.

Kapitel 02

Kapitel 02

Nach der Erstkommunion war Benni nun ein vollwertiger Katholik. Pflicht war der sonntägliche Besuch des Hochamtes um 10 Uhr, mit dem Empfang der Kommunion, der Besuch der Andacht um 14 Uhr, meist gefolgt von einem Besuch in der Dorfgaststätte, wo…

von Edgar von Leipheim 23/12/2023
Kapitel 02

Auszug aus dem Text: Mit den mündlichen Abiturprüfungen ging Roberts Zeit am Märkischen Gymnasium zu Ende. Er wurde in Physik und in Erdkunde geprüft. In der Erdkundeprüfung sollte er sich zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage in Guatemala äußern. Einige Monate…

von Leonard Lassan 18/12/2023
Kapitel 02

Wilfrieds Schulzeit und Jugend

- Dortmund 1965 -

Es ist das Jahr 1965, August, und Wilfried ist zu Hause bei seinen Eltern. Dort war er in den letzten Jahren nur in den Ferien, denn seine Eltern hatten ihn nach der 5. Klasse auf ein katholisches Internat geschickt, er…

von Paul Berni
Kapitel 02

Horst im Wartesaal

- Iserlohn 1965 -

Im Märkischen Gymnasium Iserlohn, dem Wartesaal zum richtigen Leben, war auch Horst inzwischen angekommen. Horsts Vater war 1965 mit seiner Familie aus dem Ruhrgebiet nach Letmathe im Sauerland gezogen. Dieser Ortswechsel war für alle eine einschneidende Veränderung: Mietwohnung im Dach-geschoss…

von Claus Didburger 14/12/2023

Rahmenhandlung

Im Zeitschriftenstapel, der auf dem Ablageboden unter dem Couchtisch lag, fand Robert eine alte Schülerzeitung. Es war die Ausgabe Nummer sechs des „Eintopf ” aus 1968. Damals war er Schüler der Oberprima am Märkischen Gymnasium in Iserlohn. Er hatte für diese Ausgabe der Schülerzeitung einen Beitrag unter der Überschrift „Abgesang der Demokratie oder Wiedergeburt des Jungen Deutschland“ geschrieben. In diesem Artikel hatte er in einem fiktiven Gespräch zwischen Vater und Sohn die Situation im Jahr 1968 mit dem Vormärz und der Weimarer Republik verglichen. Er legte die Schülerzeitung in den Umzugskarton, in dem sich bereits einige Bücher befanden. Den Stapel mit den anderen Zeitschriften wollte er später zum Papiercontainer bringen. Beim Gedanken an seinen Artikel in der Schülerzeitung musste er schmunzeln. Was für eine gestelzte Sprache und die vielen Zitate, die den Eindruck erwecken sollten, die in dieser Zeit offenkundigen Veränderungen verstanden zu haben.

Tatsächlich hatten sich die Verhältnisse an seiner Schule wie in der ganzen Gesellschaft erkennbar verändert. Waren noch in der Obersekunda etliche Schüler mit Krawatte und einem Pullover mit V-Ausschnitt zum Unterricht erschienen, hatten die meisten von ihnen 1967 die Krawatte weggelassen. Einige besonders Mutige hatten seit Monaten auf den Friseurbesuch verzichtet und ihre Haare zu einer stattlichen Mähne wachsen lassen. Robert gehörte nicht zu ihnen. An ihren Diskussionen beteiligte er sich genauso wenig wie an Ihren Feiern. Nicht ohne Erstaunen beobachtete er, wie sich viele seiner Mitschüler veränderten. In Gedanken verglich er diesen Prozess mit der Verpuppung einer Raupe und ihrer Metamorphose zum Schmetterling. Sein Interesse galt in dieser Zeit den Naturwissenschaften und der Literatur. Er las Texte von Max Frisch und Bertolt Brecht. Wenn es möglich war, besuchte er die Aufführung ihrer Bühnenstücke im Theater. Er fühlte sich wie in einem Wartesaal, den er demnächst verlassen würde, um aus einer konstruierten Gedankenwelt in das wirkliche Leben einzutreten.

Kapitel 03

Kapitel 03

Eva und Eberhard

- Köln 1968 -

Während Robert Beckmann mit seinen Mitschülern auf der letzten Klassenfahrt seiner Schulzeit im Elsass unterwegs war, marschierten in der Nacht zum 21. August 1968 etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR in die Tschechoslowakei…

von Anne Wertheim 01/01/2024
Kapitel 03

Aufbruch aus dem Wartesaal

- Iserlohn 1969 -

Auszug aus dem Text: Für die Zeit zwischen Schule und Studium hatte Robert in einer Drahtzieherei in der Obergrüne bei Iserlohn eine Stelle als ungelernte Hilfskraft gefunden. Ein Nachbar, der dort als Industriemeister arbeitete, hatte ihm die Stelle vermittelt und…

von Leonard Lassan 18/12/2023
Kapitel 03

Demonstration – wozu das? Der Volkswille äußerte sich doch in Wahlen und den daraus hervorgehenden Repräsentanten, also konnte das nur etwas gegen den Volkswillen sein, rein logisch betrachtet. Straßenbahnschienen besetzen – warum sollte für eine Straßenbahnfahrt kein angemessenes Entgelt verlangt…

von Paul Berni
Kapitel 03

Am 16.05.1959 haben die Eltern von Maria geheiratet. Das besondere war, dass Mutter Dora, die in Amsterdam geboren wurde, sich für einen Deutschen namens Helmut aus Ennepetal, einer kleinen Stadt im Ruhrgebiet, entschieden hat. Dora und Helmut sind in Kriegszeiten…

von Antonie Schäfer
Kapitel 03

Den Wartesaal haben die Schüler mit unterschiedlichen Zielen verlassen. Horst verschlug es nach dem Abitur 1969 nach Aachen zum Studium des Gewerbelehramtes. Eigentlich wollte er Zahnarzt werden. Der Numerus Clausus machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Nach dem…

von Claus Didburger 14/12/2023

Rahmenhandlung

In einem Fach von Roberts Kleiderschrank stand eine alte mechanische Reiseschreibmaschine. Es war die Traveller de Luxe von Olympia. Seit Jahrzehnten hatte er sie nicht mehr benutzt. Wahrscheinlich konnte man noch nicht einmal mehr Farbbänder für die Schreibmaschine nachkaufen. Er hatte es aber nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen und in seinen Gedanken immer damit argumentiert, dass er mit dieser Schreibmaschine die Möglichkeit hatte, auch dann noch Texte zu schreiben, wenn der Strom ausgefallen war oder sein Laptop, den er auch als Schreibmaschine benutzte, einen Defekt hatte.

Während seines Chemiestudiums an der Universität Dortmund hatte ihm die Schreibmaschine gute Dienste geleistet. Es war Robert leichtgefallen, sich damals für ein Studium der Chemie zu entscheiden, auch wenn sein besonderes Interesse immer der Physik gegolten hatte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der wesentliche Grund für die Aufnahme des Chemiestudiums war sein ausgeprägter Pragmatismus. Chemie war eine leicht zu verstehende Naturwissenschaft. Fast alle Zusammenhänge konnten auf den Aufbau der Elemente und die Eigenschaften der Elektronenhülle zurückgeführt werden. Wenn man das verstanden hatte, ließ sich fast alles Weitere daraus ableiten.

Er sah es auch als einen Vorteil an, dass es eine große chemische Industrie gab, die in international tätigen Konzernen und mittelständischen Betrieben eine große Zahl interessanter Stellen bot. Eine physikalische Industrie kannte er nicht. Ein Lehramtsstudium hatte er beim Gedanken an seinen Vater, einen Realschullehrer, schnell ausgeschlossen, nachdem ihm klar geworden war, wie weit die Tätigkeit eines Lehrers von der Beschäftigung mit einer Wissenschaft entfernt ist. Dabei hatte ihm sein Physiklehrer vor dem Abitur geraten, ein Studium für das Lehramt am Gymnasium aufzunehmen. Er würde ihn bei der Stiftung Volkswagenwerk für ein Stipendium vorschlagen. Die Gewährung des Stipendiums sei nur eine Formsache.

Kapitel 04

Kapitel 04

Die 70er Jahre begannen mit einem sehr kalten Winter. In Dortmund war es zwar normalerweise etwas wärmer als im weiter östlich und etwas höher gelegenen Dringenberg, aber selbst hier war es zum Jahreswechsel eisig kalt. Wie alle Kommilitonen fuhr auch…

von Edgar von Leipheim 21/01/2024
Kapitel 04

Auszug aus dem Text: Robert hatte nach dem Sommersemester 1971 sein Vordiplom in Chemie abgeschlossen und sich um ein Zimmer im Studentenwohnheim beworben. Er konnte seinen Augen kaum trauen, als er schon nach wenigen Monaten ein Schreiben des Studentenwerks erhielt,…

von Leonard Lassan 18/12/2023

Rahmenhandlung

Die Möbel in Robert Beckmanns Berliner Apartment bestanden aus hellem, massivem Erlenholz. Größere Teile wie die Platte seines Esstisches oder die Türen und Wände seiner Schränke waren aus stabverleimten Teilen gefertigt. Alle waren von der schnörkellosen, kantigen Eleganz, die für Möbel der frühen 2000er Jahre charakteristisch ist. Ein Teil passte nicht zu dieser Einrichtung. Es waren die individuell gefertigten Einschübe seines Wohnzimmerschranks, in die er Langspielplatten gestellt hatte. Sie waren Relikte aus seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Dortmund.

Vorsichtig stellte Robert die Langspielplatten in einen Umzugskarton und sorgte mit mehrfach gefalteten Handtüchern, die er zwischen den Plattenstapel und die Wand des Umzugskartons schob dafür, dass sich die Langspielplatten beim Transport nicht bewegen konnten. Als letzte Platte hatte er „The best of Procol Harum“ in dem Umzugskarton verstaut. Die Gruppe hatte er durch Elke kennengelernt. Sie hatte die Platte leise abgespielt, als er sie aus der Wohnung eines befreundeten Paares abholen wollte, dem sie als Babysitter aushalf. Das Bild von Elke, die neben dem Bett mit dem schlafenden Kind stand, während im Hintergrund leise „A whiter shade of pale“ lief, hatte sich tief in seine Erinnerung eingegraben. In dem Moment war ihm klar geworden, dass er sein weiteres Leben mit ihr teilen wollte.

Dabei hatte er Elke erst wenige Wochen zuvor kennen gelernt. Sie hatte zusammen mit einer Freundin eine von Studenten bewirtschaftete Kneipe, den Blauen August, besucht. Diesen Namen hatte die Studentenkneipe nicht wegen des tiefblauen Himmels im August, wenn das Ozon in der Stratosphäre sein jährliches Maximum erreicht, sondern wegen August, einem Bewohner aus dem benachbarten Altenheim, der tatkräftig bei der Einrichtung der Kneipe geholfen hatte. Das Adjektiv blau im Namen der Kneipe war eine unfeine Anspielung auf den Zustand, in dem die Studenten August immer wieder angetroffen hatten.

Elke war ihm gleich aufgefallen. So hübsche Mädchen, die er nicht kannte, tauchten selten im Blauen August auf. Er ging auf sie zu und fragte, ob sie das erste Mal hier sei und ihr die Kneipe gefallen würde. Sie unterhielten sich über viele belanglose Themen, später über Persönliches. Elke war Lehramtsstudentin und interessierte sich für fast alles. Robert war überrascht, wie gut sie sich in der Literatur auskannte. Beim Gespräch über Hermann Hesse zog sie einen Zettel aus Ihrem Portemonnaie, auf den sie die Zeilen „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ geschrieben hatte. Das Gedicht Stufen von Hermann Hesse kannte er auch.

“Wie heißt du?” fragte er sie. “Elke”, sie lachte, “Elke Lessing”. Er sagte nur: “Ach so”. “Und wie heißt du?” fragte sie ihn. “Ich heiße Einstein”, er machte eine kurze Pause, “Albert Einstein”. “Lass den Quatsch”, sagte sie, “ich heiße wirklich Lessing. Also, wie heißt du richtig?” “Ich heiße Robert, Robert Beckmann, so wie der Mensch Beckmann aus der Kurzgeschichte “Draußen vor der Tür” von Wolfgang Borchert und Robert wie der fliegende Robert aus dem Struwwelpeter”. Damit hatte er alles gesagt. Sie verabredeten sich zum Eislaufen am übernächsten Abend.

Kapitel 05

Kapitel 05

Im Inkubator der Wissenschaft

- Dortmund 1974 -

Auszug aus dem Text: Elke stammt aus einer Pastorenfamilie. Der Vater hatte in Breslau und Wien Theologie studiert. Statt eine Pastorenstelle in einer Kirchengemeinde anzutreten, war er nach dem Studium als Infanterist mit der Wehrmacht an der Ostfront gelandet und…

von Leonard Lassan
Kapitel 05

Das Verschwinden

- Amsterdam 1959 -

Als Robert Beckmann die experimentellen Arbeiten an seiner Dissertation aufnahm, erlebte Nelli, die Tante von Maria Finke einen Schicksalsschlag, der sich bereits 1969 anbahnte und sie und auch die Familie jahrzehntelang belastet hat und auch heute noch eine Wunde ist,…

von Antonie Schäfer

Rahmenhandlung

Auf dem Schubladenschrank im Wohnzimmer stand die Replik einer griechischen Vase, die Robert noch verpacken musste. Er hatte sie in einer Manufaktur auf Kos erworben, in der junge Frauen nebeneinander an langen Holztischen saßen und Schalen oder Vasen aus Keramik im Stil der griechischen Antike bemalten.

Die Reise nach Kos hatten Robert und Elke in den Osterferien 1979 unternommen, nachdem Robert im Jahr davor eine Stelle als Laborleiter am chemischen Untersuchungsamt in Oldenburg angenommen hatte. Elke war Robert ein halbes Jahr später nach Oldenburg gefolgt. Sie war aus dem Schuldienst in Nordrhein-Westfalen ausgeschieden und hatte eine neue Stelle als Lehrerin in Delmenhorst angetreten.

Der Unterschied zwischen Dortmund, einer Industriestadt des Ruhrgebiets, und Oldenburg, einem Verwaltungszentrum, in dem sich viele noch als Bürger des Großherzogtums fühlten, war bei jeder Gelegenheit zu spüren. Viele Oldenburger hatten die Hoffnung, einmal im Leben bei einem Kohlessen in einer der Gruppen, denen sie angehörten, die Kohlkönigswürde zu erringen. Es waren überaus freundliche Menschen, von denen manche so aussahen, als würde man sie vom Stadtbild kennen. Auf den Fotos der Imagebroschüre für das Stadtmarketing sahen viele so ähnlich aus, wie die Personen, die einem überall in der Stadt begegneten. Die wirkliche Welt war weit weg, und die Gedanken der Oldenburger kreisten um ihr lokales Umfeld. Wer konnte es den beiden verdenken, dass sie nach dem Katastrophenwinter 1978/79, der sich als schneereichster des Jahrzehnts herausstellen sollte und dem Kulturschock in einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft, die mehr nach Anerkennung als nach Erkenntnis strebte, an einem Ort der griechischen Antike Inspiration suchten.

Kapitel 06

Kapitel 06

Text in Bearbeitung

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Auf dem Highboard im Wohnzimmer standen mehrere Bücher, die Robert noch nicht vollständig gelesen hatte, zwischen zwei großen zylindrischen Buchstützen. Er legte die Bücher in einen Umzugskarton und wickelte die Buchstützen sorgfältig in Seidenpapier ein, bevor er sie auf den Fußboden stellte. Die Buchstützen hatte er aus dem Rest eines Bohrkerns aus Steinsalz gefertigt, der für die Untersuchung im Labor nicht mehr benötigt wurde. Der Hausmeister hatte ihm geholfen, den Bohrkern mit einer Gehrungssäge unter einem Winkel von 45° in zwei gleich große Stücke zu teilen. Von einem Teil hatte er eine zylindrische Scheibe abgetrennt, die sich gut zum Beschweren von Briefen und Notizblättern eignete. Um die Werkstücke aus Steinsalz zu schützen, hatte er sie mit einem farblosen Lack gestrichen und die Unterseite mit grauem Filz beklebt. Diese Buchstützen und der Briefbeschwerer hatten ihn seither auf allen weiteren Stationen seines Berufslebens begleitet.

Er hatte sie auch mitgenommen, als er 1983 vom chemischen Untersuchungsamt an die Bezirksregierung versetzt wurde. Lange hatte er darüber nachgedacht, warum man ihm die Versetzung an die Bezirksregierung angeboten hatte. Er zweifelte nicht daran, dass man ihm in der Bezirksregierung und im Fachministerium zutraute, den Posten eines Dezernenten auszufüllen. Er wurde aber das Gefühl nicht los, dass für seine Versetzung an eine Verwaltungsbehörde auch andere Gründe eine Rolle gespielt hatten. Mit einer weiten Auslegung der Amtshilfe hatte er im chemischen Untersuchungsamt auch Proben aus Gewässern, die erkennbar mit Öl verunreinigt waren und Federn verölter Seevögel zur Untersuchung angenommen. Dies waren keine Aufgaben seiner Dienststelle. Die meisten dieser Untersuchungen fielen in die Zuständigkeit des Bundes. Das musste er einsehen. So stimmte er seiner Versetzung zu und ging mit Buchstützen und Briefbeschwerer in die Bezirksregierung, den Maschinenraum der Verwaltung.

Kapitel 07

Kapitel 07

Im Maschinenraum der Verwaltung

- Oldenburg 1983 -

Auszug aus dem Text: Die Bezirksregierung Weser Ems war in dem früheren Gebäude der Oldenburger Staatsregierung untergebracht. Seitlich neben dem Regierungsgebäude liegt der ehemalige Landtag des Großherzogtums, der von der Bezirksregierung als Kantine und wegen der zahlreichen größeren Räume für…

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Robert griff ins Bücherregal, in Augenhöhe, dorthin wo manche die Bände stellen, die der Wohnung ein bildungsbürgerliches Ambiente verleihen sollen. Bei ihm standen dort Taschenbücher neben gebundenen Werken mit Leinen- oder Kartoneinband, alles Lyrik, nach Autoren geordnet. Er nahm einen Band heraus, ein Taschenbuch, das schon deutliche Lesespuren vom Umblättern und dem Ablegen des aufgeschlagenen Bändchens mit dem Einband nach oben aufwies. Es war die Gedichtsammlung „auf eigene hoffnung“ von Reiner Kunze. Auf den aus der DDR zwangsemigrierten Lyriker und Autoren kurzer Erzählungen war er 1989 aufmerksam geworden, als er im Agrarministerium in Hannover arbeitete und mit angehaltenem Atem und höchster Konzentration die Entwicklung zur deutschen Einheit verfolgte. Der schwache Knick im Rücken des Taschenbuchs war ein sicheres Zeichen dafür, dass er diese Seite häufig aufgeschlagen hatte. Den Text des Gedichts kannte er auswendig.

Erasmus von Rotterdam

Er wusste, was brücken wissen: Sie verbinden
über wasser, was unter wasser verbunden ist.

Aber das eine ufer war sumpf,
das andere feuer

Er hatte den Text des Gedichts um die handschriftliche Zeile:

“Deshalb: Auf Brücken leben, immer in Erwartung des freien Falls.”

ergänzt. Diese Ergänzung war keine Kritik an dem Gedicht. Sie war seine Standortbestimmung. Mit einer ihm jederzeit bewussten Distanz zu seiner Umgebung und den Mitmenschen hatte er seine Rolle gefunden. Er betrachtete alles aus der Perspektive des vergleichenden Verhaltensforschers. Hatte ihm diese Haltung den neugierigen Blick des Wissenschaftlers verliehen, der zur Wahrnehmung der Welt und der in ihr ablaufenden Prozesse unverzichtbar ist, war sie auch die Ursache seiner Unfähigkeit sich anderen Menschen anzuschließen. Er konnte Gruppen führen, sich mit aller Macht gegen sie stellen oder abseitsstehen und das Geschehen aus der Distanz beobachten. Sich in eine Gruppe integrieren und aus der Übereinstimmung mit Anderen Kraft und Sicherheit gewinnen, war ihm verwehrt. Dieses tiefe Misstrauen gegenüber Gruppen und ihren Ritualen hatte er schon während der Kindheit gezeigt. Auch jetzt konnte er noch die Beklemmung nachfühlen, die ihn immer bei der Teilnahme an den Schulgottesdiensten beherrscht hatte. Schon beim Betreten des Kirchenschiffs wusste er, hier und jetzt wird versucht, Kontrolle über dich und deine Gedanken zu gewinnen.

Kapitel 08

Kapitel 08

Einheit und Reorganisation

- Hannover 1989 -

Text in Bearbeitung

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Im Laufe ihres Lebens sammeln viele Menschen unterschiedliche Gegenstände an, die für sie nur einen geringen praktischen Nutzen haben, mit denen sie aber Erinnerungen an wichtige Erlebnisse verbinden. Das ging Robert nicht anders. Als er den Inhalt einer Schublade des Highboards verpacken wollte, fand er einen georgischen Dolch. Es war die Replik einer historischen Waffe, die sich nur bedingt zur Gewaltanwendung, aber hervorragend als Brieföffner eignete. Dieser Brieföffner stammte aus der Zeit, als er die georgische Regierung in einem Projekt der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit beim Aufbau der Lebensmittelüberwachung und der Weiterentwicklung ihres Lebensmittelrechts beraten hatte.

Seit 1996 war er wiederholt zu Gesprächen mit Vertretern der georgischen Regierung nach Tbilissi gereist. 1997 hatte er eine Gruppe georgischer Abgeordneter, Unternehmer und hoher Beamter bei ihrem Informationsbesuch durch Deutschland und zu den Institutionen der Europäischen Union nach Brüssel begleitet. Über Köln, wo sie vom ICE  in den Thalys umsteigen musste, war die Delegation nach Brüssel weitergereist. Mit zunehmender Reisezeit im Zug wurden die Georgier immer unruhiger und fragten, wann sie denn endlich die Grenze zwischen Deutschland und Belgien erreicht hätten. Das konnte Robert ihnen nicht sagen. Schließlich wurden seit dem Inkrafttreten des Schengen-Abkommens auch an dieser Binnengrenze der EU keine Reisenden mehr kontrolliert. Das beeindruckte die Georgier genauso wie das respektvolle und vom gemeinsamen Verständnis der europäischen Institutionen bestimmte Auftreten ihrer Gesprächspartner in Brüssel. Vor dem Rückflug nach Tbilissi sagte ihm die Delegationsleiterin, eine wichtige Abgeordnete im georgischen Parlament: „Herr Beckmann, wir wollen auch in die EU“. Das konnte Robert gut verstehen. Ihm war aber bewusst, dass dies noch ein langer Weg sein würde.

Auch wenn die Verhältnisse in der EU vielen Drittstaaten vorbildlich erschienen, zeigten sich bei genauer Betrachtung große Schwachstellen. So hatten seit Beginn der 90er Jahre in Großbritannien immer mehr Rinder auffällige Symptome einer schweren Nervenschädigung gezeigt, die nicht therapiert werden konnte und über einen längeren Zeitraum zum Tod der Tiere führte. Ursache dieser Krankheit, die auf den Menschen übertragen werden kann, war die bovine spongiforme Enzephalopathie, die in den Medien meist mit der Abkürzung BSE oder plakativer als Rinderwahnsinn bezeichnet wurde. Nachdem 1997 der erste sichere Nachweis eines an BSE erkrankten Tieres in Deutschland vorlag und diese Krankheit seit 2000 in einem frühen Stadium bei lebenden Tieren nachgewiesen werden konnte, war ein strategischer Ansatz zur Bekämpfung dieser Tierseuche möglich. Die lange Entwicklung bis zu diesem Schritt hatte aber deutlich gemacht, dass die Schwachstellen im Verbraucherschutz identifiziert und abgestellt werden mussten. Wie den meisten Wissenschaftlern war auch Robert klar, dass es hier um eine grundsätzliche Neuausrichtung der Politik gehen musste. Die wissenschaftliche Bewertung von Risiken musste unabhängig von den danach zu treffenden Maßnahmen erfolgen.

Kapitel 09

Kapitel 09

Auszug aus dem Text: Robert saß in seinem Büro am Schreibtisch und zog die Schultern nach hinten. Er hatte sich in den letzten Monaten wenig bewegt, meist am Schreibtisch gesessen und Texte auf dem Bildschirm oder Vorlagen in den Laufmappen…

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

An mehreren Stellen in Roberts Wohnung befanden sich Gegenstände aus schwarzer ungarischer Keramik, mehrere Schalen, eine Vase und ein Aschenbecher. Die Keramiken waren vor dem Brennen durch eingeritzte Muster verziert worden. Er wusste, dass er diese Stücke sorgfältig in Seidenpapier einschlagen und so verpacken musste, dass Sie den Umzug unbeschadet überstehen. Sie waren Unikate und ließen sich kaum ersetzen, wenn sie beschädigt würden. Er hatte sie bei einer Radtour durch die ungarische Puszta im Atelier eines Künstlers in Nádudvar gekauft.

Die Radtour hatte er zusammen mit Elke gemacht. Am Vormittag bewegte sich die Reisegruppe, die von einem ortskundigen Reiseleiter geführt wurde, von einem Kurort mit Thermalbad zum nächsten. Am Nachmittag wurden die Sehenswürdigkeiten der als Tagesziel angesetzten Orte besichtigt oder die Ateliers und Werkstätten ortsansässiger Künstler besucht. Den Abend verbrachte die Reisegesellschaft im Thermalbad, das exklusiv für Sie geöffnet hatte. Eine Reise wie diese hatte er nie vorher unternommen. Es war schon ein merkwürdiges Lebensgefühl, morgens die körperliche Anstrengung, am Nachmittag das Eintauchen in die Kultur und am Abend das dekadente Baden im Thermalbad mit Sekt und Häppchen, die am Beckenrand auf silbernen Tabletts bereitgestellt waren.

Kurz vor der Reise war er aus dem niedersächsischen Landesdienst in den Bundesdienst gewechselt. Seit Mai 2002 hatte er am vorläufigen Dienstsitz Bonn mit einer Gruppe von 25 Personen die Arbeit am Aufbau der Bundesanstalt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit aufgenommen. Diese Aufgabe hatte große Ähnlichkeit mit der Arbeit in einem Start-up. Gegenüber den eigenen Mitarbeitern und den betroffenen Einrichtungen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verbraucherorganisationen musste die Vision einer Behörde vermittelt werden, die Risikomanagement nach wissenschaftlichen Erkenntnissen betreibt. Dabei konnte er für die weitere Organisationsentwicklung endlich seine Ideen zur Gestaltung selbstorganisierter Prozesse umsetzen.

Kapitel 10

Kapitel 10

Text in Bearbeitung

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Robert ging zum Kleiderschrank. Als nächstes musste er seine Kleidung in die Umzugskartons legen. Danach könnte er den Kleiderschrank auseinandernehmen und wäre bei der Vorbereitung des Umzugs ein ganzes Stück weiter gekommen. Den Schrank wollte er mit einem mechanischen Schraubendreher zerlegen. Der Akkuschrauber war ihm zu schwer. Außerdem hatte er das Gefühl, die Kraft bei der Arbeit mit dem mechanischen Schraubendreher besser dosieren zu können. Als er die Schranktür geöffnet hatte, sah er auf eine Reihe ordentlich nebeneinander gehängter Anzüge. Alle waren in gedeckten Farben. Ein blauer zweireihiger Anzug, zwei braune Anzüge, deren braun sich unbestimmt zwischen mittelbraun und dunkelbraun einordnen ließ. Die meisten Anzüge waren grau, von einem hellen steingrau bis zu einem stumpfen anthrazit. Beim Anblick der Anzüge musste er an eine Szene aus dem Film “Ödipussi” von Loriot denken. Er hatte Loriot als den Inhaber der Tuch- und Möbelhandlung Winkelmann & Sohn vor Augen, der einem Rentnerehepaar die unterschiedlichen Grautöne von Sofabezügen anpreist.

Ihm war bewusst, dass er eine besondere Vorliebe für die Farbe Grau hat. Seine grauen Anzüge hatten einen unschätzbaren Vorteil. Wenn weitere graue Anzugträger hinzukamen, konnten sie einen vorzüglichen Hintergrund abgeben, um hochgestellte Persönlichkeiten, insbesondere Frauen, optisch in den Mittelpunkt zu rücken. Ihm war früh bewusst geworden, dass er nicht wegen seines persönlichen Auftretens, sondern wegen seiner Ideen und Anregungen von anderen wahrgenommen wurde. Schon vor knapp 40 Jahren galt er in der Bezirksregierung, bei der die Aufsicht über das chemische  Untersuchungsamt lag, in dem er damals arbeitete, als graue Eminenz. Immer wieder waren Ideen, die ihm zugeordnet wurden, in Vorschläge und Stellungnahmen des Untersuchungsamtes eingeflossen. Auch in seinen späteren Funktionen fühlte er sich in der Rolle des Ideengebers, der bei öffentlichen Anlässen gerne in der zweiten oder dritten Reihe stand, besonders wohl. Insbesondere 2008 während der Finanzkrise nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, als er im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz arbeitete, gaben ihm die grauen Anzüge ein unauffälliges Aussehen und machten ihn als Person fast unsichtbar.

Kapitel 11

Kapitel 11

Text in Bearbeitung

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Jetzt war nur noch die Umzugskiste offen, in die Robert zuvor alle Einzelteile gelegt hatte, die in seiner Einrichtung keinen festen Platz gehabt hatten. In diese Kiste musste jetzt noch eine DVD, die er beim Verpacken der Schallplatten, CDs und anderen DVDs übersehen hatte. Es war die DVD „Welt am Draht“, ein Film von Rainer Werner Fassbinder, der bereits 1973 als zweiteiliger Fernsehfilm für den WDR gedreht und von der ARD ausgestrahlt worden war. Dieser Film hatte Robert gleichermaßen fasziniert und verunsichert. Die Vorstellung, dass unsere Wirklichkeit mit all ihren Details nur eine Simulation ist, hatte ihn über all die Jahre begleitet. 2010 war eine restaurierte Fassung des zweiteiligen Fernsehfilms als Doppel DVD herausgegeben worden. Ein Jahr später hatte er sie in Berlin im Kulturkaufhaus Dussmann in der Friedrichstraße entdeckt und sofort gekauft.

Einmal hatte er den Film mit seiner Kollegin Karin, ein anderes Mal mit seinem Schulfreund Jürgen und dessen Frau angesehen. Alle fanden den Film interessant. Die verstörende Faszination, die der Film auf Robert ausübte, hatten sie aber nicht empfunden. Er steigerte sich immer mehr in die Vorstellung hinein, dass die ganze Welt nur eine Simulation aus einer gigantischen Zahl miteinander verknüpfter Quantenzustände sein könnte, von der wir uns das Bild realer Objekte in einem Raumzeitkontinuum gemacht haben.

Ganz allein war er mit dieser Vorstellung nicht. Bereits 2003 hatte der Philosoph Nik Bostrom eine Simulationshypothese entwickelt, die unter anderem die Idee behandelt, in einer Computersimulation zu existieren. Je länger Robert darüber nachdachte, desto tiefer wurde sein Wunsch, dass dies nur eine Fiktion sei und er endlich diese dystopische Vorstellung aus seinen Gedanken verbannen könnte.

Kapitel 12

Kapitel 12

Die Welt als Simulation

- Berlin 2014 -

Text in Bearbeitung

von Leonard Lassan

Rahmenhandlung

Robert hatte die Arbeiten zur Vorbereitung seines Umzugs abgeschlossen. Er hatte die Bücher in den Umzugskartons sorgfältig gestapelt und die Zwischenräume zwischen den Stapeln mit aufrechtstehenden, großformatigen Bildbänden ausgefüllt, um ein Verrutschen der Stapel zu verhindern. Er drückte mit der Hand leicht gegen die Stapel und stellte zufrieden fest, dass sich die Bücher gegenseitig stabilisierten und nur wenig verschieben ließen. Solange die Umzugskartons nicht einreißen würden, war für den Transport kein Schaden zu befürchten. Er blickte auf und registrierte die abgenommenen und mit Papierfließ umwickelten Lampen, ordentlich in einer Reihe auf den Boden gelegt. Daneben standen, an die Zimmerwand gelehnt, eine Matratze, ein Lattenrost und die Holzteile seines auseinander geschraubten Bettgestells und der Schränke. Im Nebenzimmer standen sein Esstisch, vier Stühle und zwei Sessel neben einem kleinen quadratischen Couchtisch. Die Einrichtung seines Apartments in Berlin bestand nur aus wenigen Möbeln und den notwendigsten Gegenständen, um dort während der Arbeitswoche zu leben.

Jetzt gab es für ihn nichts mehr zu tun. Er blickte auf seine Armbanduhr. In der nächsten halben Stunde sollte der Wagen des Umzugsunternehmens eintreffen. Er setzte sich in einen Sessel und lehnte sich zurück. Es war sein Lieblingssessel mit einem Bezug aus terracottafarbenem Alcantara, hoher Rückenlehne und höheren Fußblöcken aus hellem Buchenholz. Seine Zeit in Berlin war zu Ende gegangen und er würde in die Region Hannover zurückkehren, in ein gerade fertig gestelltes Haus mit Blick auf die Ebene zwischen Großem und Kleinem Deister. Er griff nach der Kladde, die neben dem Sessel auf dem Fußboden lag. Dort hatte er alle noch vor dem Umzug zu erledigenden Aufgaben eingetragen. Die Haken hinter den Eintragungen zeigten ihm, dass er alles erledigt hatte.  Auf dem Couchtisch lag der Bleistift, mit dem er die Aufgaben nach Erledigung abgehakt hatte. Er hob ihn auf und schrieb auf der nächsten freien Seite der Kladde:

Angekommen

Ich bin angekommen
       und ermüdet von der Länge des Weges.

Ich habe die Herausforderungen angenommen
       und alles verloren, was ich gewonnen glaubte.

Ich bin angekommen
       und gleichzeitig zurückgekehrt zum Ausgangspunkt der Reise.

Die mich ein Stück des Weges begleitet hatten.
       habe ich aus den Augen verloren.

Jetzt folgen sie wieder eigenen Weltlinien
       im Kontinuum der Raumzeit.

Die Sinn stiftende Arbeit wurde mir genommen,
       die Hoffnung auf tiefe Erkenntnisse habe ich aufgegeben.

Jetzt bin ich Darsteller in der Truman Show
       und kann die Perfektion der gespielten Wirklichkeit kaum ertragen.

Nur die Schönheit der Landschaft entschädigt:
       Straßen mit Dächern aus dem Laub der Alleebäume
       und die Berglandschwelle vom Mittelgebirge zur Tiefebene.

Nur manchmal noch beuge ich mich über die Rätsel der Welt
       und verzweifle, wenn sie mir ihre Geheimnisse nicht offenbaren.

Diesen Ort werde ich nie wieder verlassen,
       meiner Geschichte kein weiteres Kapitel hinzufügen.

Er war sicher, dass er in dem jetzt folgenden Lebensabschnitt keine Gedichte mehr schreiben würde. Die Erinnerungen, die er mit den Gegenständen verband, die er für den Umzug vorbereitet und verpackt hatte,  machten ihn schwermütig. Alle Stationen seines Lebens lagen jetzt wie auf einem Seziertisch sorgfältig herauspräpariert vor ihm. Sollte das sein Leben gewesen sein? Was war aus all seinen Ideen und Hoffnungen geworden? Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er an wichtigen Stellen andere Entscheidungen getroffen hätte? Er erinnerte sich an die Geschichte vom Schmetterling, dessen Flügelschlag sich zu einem Hurrikan aufschaukeln kann. Welche Entscheidung im eigenen Leben hat solche Auswirkungen, welche Unterlassung hat solche Folgen? Wo verläuft sie, die für uns nicht wahrnehmbare Grenze zwischen Zufall und Notwendigkeit?

Seine Stimmung verfinsterte sich zusehends. War es überhaupt möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Rückblickend war er in der Sprache der Physik einer Weltlinie gefolgt. Offen war für ihn nur die Zukunft. Mit jeder Entscheidung in der Vergangenheit hatte er alle anderen, zeitgleich möglichen Alternativen ausgeschlossen. Alles, was er in der Vergangenheit als Verlust erlitten hatte, stellte sich für ihn in der Zukunft aber als Verlockung dar, die an jedem Tag, zu jeder Sekunde wieder neue Entscheidungen zulassen würde auf dem Weg zu den Alternativen der für ihn erreichbaren Zukunft. Er wurde zufriedener und entspannte sich. Es klingelte. Das mussten die Mitarbeiter der Umzugsfirma sein. Er stand auf, ging zur Tür und betätigte den Summer.

Ausblick

Die Lebenswege des Einzelnen folgen Verläufen, die als nachgezeichnete Linien aus Fraktalen erscheinen. Sie kommen aus einer unbekannten Vergangenheit und verlieren sich in einer nicht vorhersehbaren Zukunft. Unvorhersagbar sind die Entscheidungen, die den Verlauf der Fraktale bestimmen. Aber stimmt diese Wahrnehmung wirklich? Wo verläuft sie, die kaum wahrnehmbare Grenze zwischen zufällig und zwingend eintretenden Ereignissen? Wo liegt die Freiheit des Einzelnen, über seinen Lebensweg zu entscheiden? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Die einzige Gewissheit besteht darin, dass jedes Leben eigenen Linien folgt und der Einzelne mit jeder Entscheidung im Netz der Fraktale neue Linien beginnt. Vorhersagbar sind nur Entwicklungen, die in einem System quantenmechanisch miteinander verknüpfter Zustände  sehr vieler Teilchen ablaufen. Für ein einzelnes Teilchen in einem definierten Quantenzustand lassen sich nicht alle Eigenschaften gleichzeitig mit letzter Genauigkeit bestimmen. Völlig offen ist der Zeitpunkt, zu dem ein einzelnes Quantenereignis stattfindet. Auch die Zukunft des einzelnen Menschen lässt sich nicht vorhersagen. Er erfährt sie, indem er lebt.

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