Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Literatur im Internet

Internetromane – die multimediale Dimension

Menschen verwenden mehr Zeit darauf, andere Menschen zu beobachten, sich mit ihnen auszutauschen oder sich vor ihnen darzustellen als für jede andere Tätigkeit. Medien und Unterhaltungsindustrie sind ein Ergebnis der Ökonomisierung dieser Eigenschaft. Die Amphitheater der Antike und die Kathedralen des Mittelalters sind sichtbare Monumente dafür, dass bereits in der Vergangenheit Orte so gestaltet wurden, dass diese Eigenschaften des Menschen genutzt wurden, um ein konformes Denken und Verhalten zu erzeugen. Dies ist der vielleicht wichtigste Antrieb der zivilisationsgetragenen kulturellen Evolution, in deren Folge weitere Möglichkeiten der Kommunikation und zum Umgang mit Informationen entstanden sind.

 

Seit seiner Entstehung in Afrika zwischen 300.000 und 200.000 vor Chr. und seiner Verbreitung über die anderen Kontinente vor ca. 70.000 Jahren war die Kultur des Homo sapiens durch die Sprache und ihre Möglichkeiten bestimmt. Diese Möglichkeiten erweiterten sich vor ca. 7.000 Jahren durch die Entwicklung der Schrift. Mit der Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnik seit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts hat die dritte Stufe in der kulturellen Evolution des Menschen begonnen. Jede Kulturstufe ist durch typische Kunstformen gekennzeichnet, die durch die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten und die jeweils hinzugewonnenen Möglichkeiten der Gewinnung, Bearbeitung und Dokumentation von Informationen charakterisiert sind.

 

Während der durch Sprache gekennzeichneten Kulturstufe waren Bilder, Skulpturen, Tanz, Gesang, einfache Instrumentalmusik und vorgetragene Geschichten typische Kunstformen. Durch die Schrift kam die Literatur mit ihren unterschiedlichen Formen von der Lyrik über die Prosa bis zum Schauspiel, das auf schriftliche Dokumentation angewiesen ist, hinzu. Die musikalische Entwicklung in dieser Phase ist durch das immer komplexere Zusammenwirken unterschiedlicher Instrumente gekennzeichnet, die einen gewissen Abschluss im Symphoniekonzert findet. Das wäre ohne schriftliche Dokumentation der Partituren nicht möglich. Mit der weiteren technischen Entwicklung wurden dann Bilder mit Sprache und Musik im Film zusammengeführt.

 

Mit dem Internet bekommt die Kunst ihre multimedialen Dimensionen. Durch Verlinkung ist es möglich, aus einer Textstelle zu anderen Texten, Sprache oder Musik, Bildern oder Filmen zu springen und später zu dieser Textstelle zurückzukehren. Der Leser erlebt das Dargestellte als multimediale Vielfalt. Er springt gewissermaßen wie die Gestalt in einem Sciencefiction-Roman durch ein Wurmloch im Raum von einer Kunstform in die nächste. Kunst im Internet ist multimedial, auch wenn von diesen Möglichkeiten bislang nur vereinzelt Gebrauch gemacht wird.

Internetromane – das Autorennetzwerk

Das Internet ist eine Plattform, die in besonderer Weise geeignet ist, die Zusammenarbeit von Menschen zu unterstützen. Für Autoren bietet sich dadurch die Möglichkeit, in einem Netzwerk zusammenzuarbeiten. Beiträge können von mehreren Autoren erstellt und weiterbearbeitet werden. Diese Technik ist im Netz weit verbreitet. Unterschiedliche Personen arbeiten am selben Beitrag oder an der Gestaltung derselben Internetseite. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Internetromane – der Diskurs der Leser

Anders als ein Druckerzeugnis sind Informationen im Internet auf Bidirektionalität angelegt. Der Leser kann über das Netz mit den Autoren und anderen Lesern einen Dialog führen. Soziale Netzwerke setzen ausschließlich auf Informationen, die von den Nutzern eingestellt werden und unterstützen den Diskurs zwischen den Mitgliedern des sozialen Netzwerks. Viele Internetseiten von Medien bieten Lesern die Möglichkeit, zu den Artikeln eigene Kommentare abzugeben und mit anderen Lesern einen Diskurs über den Artikel zu führen. Um diese Möglichkeiten des Internets zu nutzen, sollte auch ein Internetroman den Lesern die Möglichkeit geben, eigene Kommentare abzugeben und mit anderen Lesern und dem Autor einen Diskurs zu führen.

Internetromane – die parallelen Erzähllinien

Wenn man im Internet nach einem Begriff sucht, liefern Suchmaschinen eine Vielzahl von Links zu Internetadressen mit unterschiedlichen Inhalten. Die über das Internet verfügbaren Informationen sind gerade dadurch geprägt, dass zu jedem Sachverhalt viele unterschiedliche, zum Teil sogar widersprüchlicher Informationen angeboten werden.

Dieses Prinzip lässt sich auf einen Internetroman übertragen. Für jedes Kapitel des Internetromans „Verlockungen und Verluste“ existieren mehrere Alternativen mit unterschiedlichen Inhalten. Der Leser kann jeweils über einen kurzen Text von wenigen Zeilen den Anfang eines Kapitels verfolgen. Mit einem Klick kann er sich für ein Kapitel entscheiden, dem er folgen will. Alle anderen Kapitel verschwinden dann für ihn und werden für ihn nicht mehr erreichbar. Vor jedem neuen Kapitel steht er dann erneut vor der Entscheidung, welchem Pfad der Geschichte er folgen will. Am Beginn eines Kapitels breitet sich die ganze Vielfalt möglicher Erzählungen als Verlockung vor ihm aus. Mit der Entscheidung für ein Kapitel erleidet er den Verlust, dass alle anderen Kapitel für ihn nicht mehr erreichbar sind. Diese Erfahrung entspricht dem menschlichen Leben, das uns die Chance gibt, für die Zukunft eine Vielzahl individueller Entscheidungen zu treffen. Mit jeder getroffenen Entscheidung verlieren wir aber die Möglichkeit, gleichzeitig auch die Alternativen zu erleben.

Mit seinen parallelen Erzähllinien kopiert der Internetroman „Verlockungen und Verluste“ das Wesen des Internets. Durch die Überlagerung der Kapitel kommt es zu einer Verschränkung unterschiedlicher Erzählungen, ohne dass sich der Roman auf eine Alternative festlegen lässt. Dies erfolgt nur durch die individuelle Entscheidung des Lesers. So wie ein Quantenphysiker mit der Messung verschränkter Quantenzustände das System der Verschränkung auflöst und nur das Teilchen in dem von ihm beobachteten Zustand messen kann, das seinen Detektor erreicht hat, kann der Leser aus den unterschiedlichen, alternativ angebotenen Kapiteln jeweils nur einen Text für seinen Roman auswählen.

Internetromane – die evolutionäre Kunstform

Das Leben ist evolutionär. Neue Formen entwickeln sich aus dem Bestehenden, treten miteinander in Beziehung und verändern sich dabei. Können sich Organismen nicht schnell genug an veränderte Bedingungen anpassen, unterliegen sie im Wettbewerb und ihre Entwicklungslinie bricht ab. Diese Grundgesetze, nach denen sich die biologische Evolution organsiert, können auch als maßgebliche Regeln für die Evolution technischer Komponenten und ganzer Systeme angenommen werden. Nur die technischen Komponenten, die sich mit anderen ergänzen und so dazu beitragen, dass mittlerweile fast acht Milliarden Menschen überwiegend planvoll zusammenwirken, haben eine Chance, im Universum der Dinge zu bestehen. Nur sie werden von den Menschen gewartet, vervielfältigt und weiterentwickelt. Die Prozesse der Evolution gelten für alle Bereiche der belebten und der durch den Menschen gestalteten unbelebten Welt. Die Evolution ist universell. Sie hat auch das Potential, die Kunst im Internet zu gestalten.

In Computerprogrammen ist die Möglichkeit nicht neu, virtuelle Welten zu schaffen, die sich in Abhängigkeit vom Verhalten der Spieler verändern. In der Literatur war es bisher nur möglich, einzelne Werke zu überarbeiten und an die Sprache und das Verständnis der jeweiligen Zeit anzupassen. Dies sind aber keine evolutionären Prozesse, in denen das betroffene Werk wächst und sich inhaltlich verändert. Hierfür bietet das Internet jetzt die Möglichkeiten. Jedes Kapitel des Romans „Verlockungen und Verluste“, das zusätzlich auf der Internetseite eingestellt wird, jeder neue Autor, der als Alternative zu den bestehenden Kapiteln weitere Kapitel verfasst, verändert das Werk in einem evolutionären Sinne. Der Leser, der zweimal diese Internetseite aufruft, findet jedes Mal ein anderes Werk, das sich in Inhalt und Umfang unterscheidet. In diesem Sinne unterliegt der Internetroman „Verlockungen und Verluste“ einem evolutionären Prozess.

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