Fünf Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs wurde Robert Beckmann in Seebad Ahlbeck geboren.
Im selben Jahr feierten Nic und Dirkje ihren 55.Hochzeitstag. Natürlich hätte die Feier fünf Jahre früher stattfinden sollen, aber 1945 war wirklich kein guter Zeitpunkt.
Zehn Jahre nach der Feier kam Maria zur Welt. Sie ist glückliche Mutter von zwei Kindern. Seit kurzem ist sie auch stolze Oma von zwei Enkeln. Für sie stehen die Kinder und die kleinen Enkel im Mittelpunkt ihres Lebens. Nicht, dass sie ihr Leben mit Freunden, der restlichen Familie oder Hobbies vernachlässigen würde, aber Kinder und Enkel sind ihr das Wichtigste.
Nun beschäftigt sie seit der Geburt ihres ersten Enkels vermehrt die Frage, welchen Stellenwert Enkel früher hatten. Und da fielen ihr Nicolas, genannt Nic und Theodora, die Dirkje gerufen wurde, ein. Die beiden waren ihre Urgroßeltern. Wie war die Beziehung zwischen diesen und ihren Enkeln? Das soll ein kurzer Blick zurück in die Geschichte ihrer Familie, bzw. eines zugegeben nicht ganz kleinen Teils ihrer Familie zeigen.
Nic und Dirkje heirateten 1895 und lebten auf dem Land in einem kleinen Dorf in Noorden. Er ist in den elterlichen Betrieb hineingeboren, sie stammte aus einer sehr armen Bauernfamilie. Nics Eltern hätten sich eine andere, das hieß damals reichere Braut für ihren Sohn gewünscht. Er hat sich allerdings durchgesetzt und die Ehe ist sehr glücklich geworden. Die beiden hatten 13 Kinder. Dirkje war daher 16 Jahre lang nahezu durchgehend schwanger oder stillend.
1950 haben die beiden schließlich ihren 55. Hochzeitstag gefeiert. Auf dieser Feier waren neben den Kindern, Schwiegerkindern und einigen Geschwistern fast sämtliche der erstaunlichen 96 Enkel anwesend. 5 weitere Enkel waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geboren. Wie viele Urenkel den Kreis ergänzt haben ist Maria nicht bekannt. Das Besondere: Es gibt ein Gruppenfoto von dieser Feier, welches in ihrer Familie das Ereignis eindrucksvoll in Erinnerung hält. Die Feier mit Foto fand sogar Einzug in eine christliche Illustrierte.

Solch große Familien gab es auch damals nicht sehr oft. Übrigens befinden wir uns, wie der Name des Dorfes vermutlich schon verraten hat, im tiefsten Holland. Das ist nicht unwichtig zu erwähnen, denn in deutschen Familien haben der erste und zweite Weltkrieg nahezu in jede Familie Lücken gerissen. Dies ist Marias holländischer Familie erspart geblieben. Man blieb oft weitestgehend vollzählig. Und man kann sich vermutlich denken, dass diese Familie sehr sehr katholisch war.
Da wäre zuerst die Frage, wie das Leben damals vor mehr als 100 Jahren ablief.
Zum Verdruss von Nic kamen als erstes 4 Töchter zur Welt. Nic war Bootsbauer im eigenen Betrieb und brauchte, wie in dieser Zeit üblich, Söhne, die mithalfen. Aber sie kamen noch, die Söhne, und einer der Söhne hat das Unternehmen später fortführen können und Nics Betrieb blieb zu seinen Lebzeiten ein Familienunternehmen, auch wenn es sich zunehmend zu einer Schreinerei entwickelte.
Als Bootsbauer musste Nic neben dem Bau von neuen Holzbooten oft und zügig Reparaturarbeiten an diesen erledigen, denn die Schiffer brauchten so schnell wie möglich ihre Boote zurück. Denn ohne Boot kein Fischen, ohne Fischen keine Einnahmen.
Work-Live-Balance, die in unserer Zeit so viel Bedeutung gewonnen hat, oder geregelte Arbeitszeiten kannte man im Leben von Marias Urgroßeltern nicht. Müßiggang war verpönt. Es hieß 6 Tage die Woche arbeiten und sonntags morgens ging man in die Kirche. Wenn man nicht erschien, wäre das vom Pastor nicht kommentarlos geblieben.
Es war ein täglicher Kampf, um das für die Familie benötigte Einkommen zu erwirtschaften. Wobei Nic und Dirkje im Vergleich zu vielen anderen Familien ihrer Zeit noch ein gutes Einkommen hatten, auch wenn dies oft einen 15-Stunden-Arbeitstag bedeutete. Die Werkstatt befand sich natürlich im selben Haus, in dem man auch lebte.
Zudem hatte Janus, Nics Bruder, einen Bauernhof, der sich im selben Gebäudekomplex befand. Gegenseitige Unterstützung war selbstverständlich. Und da Janus nicht mit so vielen Kindern gesegnet war, kann man sich vorstellen, was dies für Nic, Dirkje und ihre Kinder bedeutete: man half mit und Arbeit war immer reichlich da.
Das Leben von Marias Urgroßeltern fand auf engstem Raum statt. Vermutlich wie damals üblich, das WC außen und die Küche fungierte auch als Bad. Die Eltern schliefen in einem kleinen Alkoven im Erdgeschoss, Babybett am Fußende, jede Nische wurde für Betten ausgenutzt und die älteren Kinder verbrachten die Nächte auf dem ungedämmten Dachboden. Also kalt im Winter, heiß im Sommer. Aber der Mensch ist ja sehr anpassungsfähig.
Kommen wir zurück zu der Beziehung zwischen Nic und Dirkje zu ihren Kindern und Enkeln.
Dirkje hatte natürlich mit Kochen, Waschen, Stricken, Nähen, Kinder Versorgen, etc. genug zu tun. Haushalt war damals nun wirklich keine Arbeit für die Männer. Viel Zeit für die Kinder und Enkel kann zwangsläufig nicht gewesen sein.
Außer ihrer Oma Ria hat Maria die übrigen Kinder von Nic und Dirkje nicht kennengelernt. Ria hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Ein Bruder ihrer Oma hat seine Erinnerungen, die stark von der Arbeit geprägt waren, aufgeschrieben und auch dieses Buch hinterlässt ein positives Bild über seine Beziehung zu den Eltern. Aber Maria fragt sich, wie oft die Kinder in den Arm genommen wurden, auf dem Schoß von Mama oder Papa gesessen haben. Auch Papa und Mama hieß es natürlich nicht, sondern Vater und Mutter, die man zudem gesiezt hat. Maria kann sich nicht vorstellen, dass den Kindern Bilderbücher gezeigt oder vorgelesen wurde. Auch für Gespräche über persönliche Probleme kann kaum Zeit gewesen sein. Maria ist sich sicher, dass jeden Abend vor dem Schlafengehen gemeinsam gebetet wurde. So hat es jedenfalls Oma Ria noch mit ihren Kindern getan. Haben die Kinder die individuelle Aufmerksamkeit je vermisst? Oder war das selbstverständlich, weil man es ja auch gar nicht anders kannte? Geschwister spielten sicher eine große Rolle und es gab eine enge Verbundenheit, die auch immer zu gegenseitiger Unterstützung führte.
Und Nics Enkel? Zwischen Marias Mutter Dora und deren Geschwistern gab es kein herzliches Band zu ihrem Opa. Zumindest Dirkje zeigte Zuneigung zu ihren Enkeln, aber eine Distanz war natürlich vorhanden. Allerdings sah man sich auch nur wenige Male im Jahr bei kurzen Besuchen, denn die An- und Abreise nahm damals viel Zeit in Anspruch.
Bei 101 Enkeln konnte auch kaum eine enge Beziehung der Großeltern zu ihren Enkeln entstehen, höchstens zu einzelnen. Und welches Enkelkind hat schon Lust, mit dem Opa eine Runde zu beten. Keine Rede von Geschenken, Mitbringseln oder gemeinsamem Spielen. Zur Kommunion gab es ein kleines Heiligenbildchen, über das sich Dora jedenfalls nicht wirklich freuen konnte.
Um wie vieles anders ist es heute: Viele kleine vermeintliche Paschas, Prinzessinnen, Mittelpunkt der Familie statt Katzentisch. Aber natürlich gibt es für die meisten Kinder auch viel Zuwendung, Liebe und Förderung, zudem Geschenke oder die Großeltern widmen sich intensiv den Enkeln. Was für ein Unterschied zwischen den Generationen.
Maria kramt gerne in der Vergangenheit. Der eine oder andere fragt sie dann, was das bringt. Sie würde sich doch oft nur mit Toten beschäftigen. Maria möchte aber wissen, was ihre Mutter geprägt hat und daher auch Einfluss auf ihre eigene Beziehung und Erziehung hatte. Ihre Oma war geprägt von ihrem Leben mit ihren Eltern Nic und Dirkje, welches auch sie zu dem gemacht hat, was bzw. wie sie war.
Maria freut sich, dass es ihr heute so gut geht, nicht reich im Vergleich zu anderen, aber in luxuriösen Verhältnissen im Vergleich mit der Kindheit in früheren Generationen. Die gute alte Zeit, wird das vielleicht für die zukünftigen Generationen mal ihre Lebenszeit werden?
Es ist Freitagmittag. Maria steigt nach der Arbeit ins Auto, Reisetasche und Kleinigkeiten für die Enkel schon verpackt. Nach zwei bis drei Stunden sitzt sie auf dem Boden in der Wohnung ihrer Tochter, schaut sich ein Wimmelbuch mit ihrem Enkel Tom an, nimmt dann ihre Enkelin Lilli in den Arm und ist glücklich.