Als Robert Beckmann die experimentellen Arbeiten an seiner Dissertation aufnahm, erlebte Nelli, die Tante von Maria Finke einen Schicksalsschlag, der sich bereits 1969 anbahnte und sie und auch die Familie jahrzehntelang belastet hat und auch heute noch eine Wunde ist, die immer wieder schmerzt.
Nelli stammt aus einem bescheidenen kleinbürgerlichen Elternhaus in Amsterdam, in dem die katholische Kirche und ihre Regeln eine große Rolle spielten. Der Vater war liebevoll, fleißig und humorvoll, die Mutter war ernsthaft und streng und sie sorgte dafür, dass der Laden lief, wie man sagen könnte. Nelli wuchs mit 8 Geschwistern auf engstem Raum auf, allerdings als eine der Jüngsten mit mehr Unbekümmertheit als ihre älteren Geschwister, die noch die Not der Kriegszeit miterlebt haben.
Nach ihrer kaufmännischen Ausbildung zog es sie in die weite Welt hinaus. Jung, abenteuerlustig, sprachbegabt und neugierig wollte sie der heimischen Enge entfliehen und die Welt sehen. Und Sie hat diese Zeit genossen.
Nach einer Zeit in Deutschland und einem Jahr Arbeiten in England zog es Sie 1967 nach Paris.
1969 lernte Nelli in Paris den Italiener Emilio kennen. Emilio war einige Jahre älter als sie selbst, erfolgreicher Unternehmer und – verheiratet.
Nelli ist es sicher mit dem Ballast der katholischen Erziehung schwergefallen, eine Beziehung zu einem verheirateten Mann zu unterhalten. Sie kehrte zurück nach Amsterdam.
Es passierte das, was in der Geschichte immer wieder geschieht: Emilio folgte Nelli und sie blieben ein Paar. Durch seine vielen beruflichen Reisen kam er oft in die Niederlande, aber sein Lebensmittelpunkt blieb in Italien. Natürlich versicherte er, dass er in seiner Ehe unglücklich ist.
Bis hierhin ist es, wie man so sagt, die alte Geschichte.
1971 kam Sohn Mario zur Welt. Und Nelli war sicher, dass es zur Heirat und einer gemeinsamen Zukunft kommen wird. Schließlich hat er ihr ja inzwischen versichert, dass er sich hat scheiden lassen. Daher erhielt Mario auch den Familiennamen des Vaters, was sich noch als folgenschwerer Fehler herausstellen sollte. Nellis erzkatholische Mutter Ria stand mit dieser Situation in einem großen emotionalen Konflikt. Ihrer Zuneigung zur Tochter standen ihren katholischen Wertvorstellungen gegenüber und Scheidung und uneheliche Kinder entsprachen diesen in keiner Weise. Gerade gegenüber ihrer eigenen Familie sprach Ria nicht über diese Schande, die sie vermutlich empfunden hat. Nelli hätte es sich sehr gewünscht, ihrer Mutter diese Last durch eine Heirat zu nehmen-
Aber es kam natürlich nicht zur Heirat. 1973 wurde Tochter Zara geboren. Dieses Mal erhielt das Kind Nellis Nachnamen.
Den älteren Sohn Mario hat Emilio gelegentlich mit in seine italienische Heimat genommen und ohne, dass Nelli davon wusste, galt dieses Kind in seinem Heimatort als Sohn der Ehefrau. Denn Emilio war nicht geschieden. Offensichtlich war seine Ehefrau nicht in der Lage, eigene Kinder zu bekommen und diese Lücke ersetzte Mario. Emilio gelang es, Nelli bei Besuchen in Italien immer von seiner Familie fernzuhalten- das Leben mit ihr spielte sich eher in Amsterdam oder an irgendwelchen Urlaubsorten ab.
Hatte Nelli irgendwann Verdacht, dass etwas nicht stimmte? Emilio war charmant, souverän, selbstsicher, redegewandt und vermutlich ein ausgeprägter Narzisst, der jeden Zweifel niederwalzen konnte. Er war reich und hatte viele Möglichkeiten, zu reisen oder Ferienwohnungen in Italien oder anderswo anzumieten, um Nelli von seinem Heimatort fernzuhalten.
Leider entwickelte sich die Geschichte kurze Zeit später zu einem Drama ohne Happy End.
Es ist niemand gestorben, niemand wurde unheilbar krank, es spielte körperliche Gewalt keine Rolle und doch kann man das Geschehene als Schicksalsschlag sehen.
1974 nahm Emilio Sohn Mario mit in seine Heimat – und kehrte nicht zurück. Er tauchte unter. Als Unternehmer mit weitreichenden Kontakten auf der Welt war er nicht gezwungen, in Italien zu bleiben. Aufenthalte in Syrien, einige Jahre in Kanada und wer weiß wo sonst auf der Welt machte die Suche schwer.
Denn Nelli suchte natürlich verzweifelt. Persönlich fuhr sie immer wieder nach Italien. Es müssen sich dramatische Situationen abgespielt haben, die im größeren Kreis der Familie nie im Detail erzählt wurden. Als nun alleinerziehende Mutter mit einer kleinen Tochter, die nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung hatte, war die Suche eine große finanzielle, zeitliche und emotionale Anstrengung. In dieser Zeit konnte sie glücklicherweise auf die vereinten Kräfte Ihrer Geschwister bauen.
Auch Interpol wurde bei der Suche eingeschaltet. Ein Problem war nun allerdings, dass Mario den Nachnamen seines Vaters trug und das Reisen für Emilio einfach machte. Dies wurde per Gericht zwar geändert, aber es kostete wertvolle Zeit. Schließlich dauerte es fast 10 Jahre, bis Emilio und Mario in Kanada gefunden wurden. Nelli reiste dorthin. Aber Mario hatte ein gutes Leben bei seinem Vater. Er ist im Luxus, verwöhnt und mit vielen Lügen über seine leibliche Mutter aufgewachsen. Und so kam Mario nicht zu seiner Mutter zurück. Gegen den Widerstand des Kindes im pubertären Alter, der ja mit Vater und einer „Mutter“ alles hatte und nicht in eine kleinbürgerlich bescheidene Situation mit einer ihm fremden leiblichen Mutter wollte, musste Nelli aufgeben.
Jeder kennt die Zeitungsartikel oder Berichte, dass Väter oder Mütter ihre Kinder dem anderen Elternteil entziehen. Man denkt, gerade wenn man selbst Kinder hat, wie schrecklich dies ist, kann sich kaum vorstellen, dass so etwas im wahren Leben passiert und vergisst die Geschichte wieder. Über die Auswirkungen denkt man kaum nach.
Der Leser bemerkt vielleicht, dass die gemeinsame Tochter Zara bisher kaum Erwähnung findet.
Zara wuchs schon von klein auf in einer Extremsituation auf. Natürlich hat Nelli ihrer Tochter die Zuwendung und Aufmerksamkeit gegeben, die so ein kleines Kind braucht. Aber eine derartige Belastung der Mutter muss sich auch auf das kleine Mädchen ausgewirkt haben. Vielleicht hat es sich deshalb lange Zeit genommen, bis es bereit war zu sprechen und sich zu entwickeln. Später muss es Zara schmerzhaft bewusst geworden sein, dass sie einen Vater hat, der keinerlei Interesse an ihr hat.
Im Erwachsenenalter versuchte Zara Kontakt zu Mario und Emilio aufzunehmen. Es entstand ein loser Kontakt zu diesen. Aber ein wirkliches aufrichtiges Interesse an Zara hat sich nicht entwickelt. Emilio hat ihr jedenfalls klargemacht, dass sie kein Erbe zu erwarten hat. Auch dies ist ein Indiz, dass er nicht verstanden hat, dass Zara ihren Vater kennenlernen wollte und nicht auf ein reiches Erbe aus war. Er hatte keinerlei Interesse an seiner Tochter.
Zara ist zum Glück ein warmherziger, empathischer Mensch geworden, trotz oder auch wegen ihrer Lebensgeschichte und pflegt mit ihren Kindern einen engen liebevollen Kontakt zur Mutter.
Für Nelli blieb jahrzehntelang die Trauer, Verzweiflung und natürlich auch Wut. Glücklicherweise lebte sie trotzdem ein erfülltes Leben mit Tochter, Enkel, Familie und Freunden.
Durch Zara hat Nelli einige wenige Male ihren inzwischen erwachsenen Sohn getroffen. Aber auch hier fehlte das wirkliche Interesse Marios, seine Mutter richtig kennenzulernen. Nelli hat inzwischen Enkel von ihrem Sohn, die sie nie gesehen hat. Und es gibt auch keine Hinweise oder Zeichen, dass sich hieran etwas ändern wird.
An Maria ist diese Geschichte damals weitestgehend unbeachtet vorbeigegangen. Hunderte Kilometer Abstand und die eigene Pubertät haben verhindert, dass Maria die Tragweite der Geschehnisse verstanden hätte. Man sprach damals natürlich auch nicht offen und erst recht nicht mit einer Jugendlichen über dieses Thema. So richtig begriffen hat es Maria erst viel später- nach zahlreichen Nachfragen und Gesprächen als Erwachsene und schließlich als Mutter.
Ein Schicksalsschlag, der 1969 mit dem Kennenlernen begann und Nelli bis zu ihrem Lebensende als Wunde bleiben wird.