Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Wilfrieds Kindheit

Robert Beckmann fand unter den Fotos eines, das beim Urlaub seiner Familie am Plattensee aufgenommen wurde. Es zeigte ihn mit Wilfried Schanz im Alter von vielleicht 8 Jahren, das müsste ungefähr 1958 gewesen sein. Die beiden Familien hatten sich angefreundet, ihre Zelte standen ja nebeneinander auf dem holperigen Rasen. Für Wilfried, seinen Bruder Klaus und seine Schwester Gerlinde war es ein schöner Urlaub gewesen an einem See, welcher nur ganz allmählich tiefer wurde. Dass Robert aus dem Osten kam und sie aus dem Westen, spielte bei ihren Unternehmungen keine Rolle, wäre ihnen kaum bewusst geworden, wenn die Eltern nicht manchmal Bemerkungen gemacht hätten, die sie nicht wirklich verstanden, und, wäre da nicht die tolle Armbanduhr gewesen, die Wilfried zu seiner Erstkommunion bekommen hatte, und die er natürlich stets bei sich trug, und um die ihn Robert sehnsüchtig beneidete. Wilfried musste ihm alles von der Feier, bei der es so tolle Geschenke gab, berichten, denn so etwas gab es bei ihnen zu Hause nicht.

Nach dem Urlaub hatten sich Wilfried und Robert noch ein paarmal geschrieben, so gut es ihre Schulkenntnisse zuließen, dann verebbte ihr Kontakt für lange Zeit, sie vergaßen einander, bis, ja, bis dann eines Tages … aber das ist eine andere Geschichte, die ich vielleicht später erzähle.

Wieder zuhause in Dortmund kümmerte Winfried sich zuerst um seine Pflanzen, die während seiner Abwesenheit gelitten hatten. Die Erbsen sahen recht trocken aus, die Möhren ebenfalls, nur die Sonnenblumen hatten seine Abwesenheit gut verkraftet und reckten sich stolz in die Höhe. Aber, oh je, die Tagetes, irgendetwas schien sie zerrupft zu haben.

Er und sein Bruder hatten jeder ein eigenes kleines Beet, für das sie verantwortlich waren.

Die Mutter rief zum Mittagessen, die Jungen kamen herbeigestürmt, Gerlinde saß schon da. Sie hatte Urlaub von ihrem Betrieb, in dem sie im Frühjahr letzten Jahres angefangen hatte, nachdem sie die Volksschule beendet hatte. Natürlich war sie Verkäuferin geworden. wie fast alle Mädchen.

Nun musste zuerst das Tischgebet gesprochen werden, obwohl das Essen doch so schön duftete.

„Klaus, sprich mit“, sagte die Mutter.

Tja, so war das nun mal in ihrer Familie. Ihre Freunde, wenn sie zu Besuch waren, wunderten sich über ihre langen Gebete, vor dem Essen, nach dem Essen, vor dem Schlafengehen. Bei ihnen zu Hause war das nicht so, aber sie nahmen es in Kauf, weil sie dann Spielkameraden hatten.

Bald würde Wilfried Messdiener werden, seine Eltern redeten schon die ganze Zeit davon. Er würde lateinische Sätze in der Kirche aufsagen, noch ehe er Latein in der Schule hatte.

Häufig war Wilfrieds Klassenkamerad Hans mit seinem Bruder Peter zu Besuch. Ihre Mutter hatte ihnen gesagt, dass sie nur mit katholischen Kindern spielen sollten. Ja warum, das wusste sie auch nicht so genau, der Pfarrer hatte es wohl nahegelegt. So hatten sie keine große Wahl, denn die meisten Kinder waren evangelisch. Aber, Wilfrieds Mutter erlaubte den Jungen viel öfter, fernzusehen, zum Beispiel die Sendung mit dem Pferd Fury, das Joe gehörte. Joe lebte auf einer Farm in Arizona, und da war immer etwas los, viel mehr als in Dortmund Hombruch auf jeden Fall. Da müsste man leben, wenn es auch manchmal gefährlich war; es gab da Verbrecher, Pferdediebe zum Beispiel.

Noch etwas war schön bei den Schanzes. Die Mutter war leidenschaftliche Spielerin. So spielte sie mit den Kindern Monopoly, Rommé, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht und alles, was es sonst noch so gab, ganze Nachmittage lang. Und was lernt ein halbwegs intelligenter Junge bei den Spielen? Mathematik natürlich, zählen, addieren, Wahrscheinlichkeiten abschätzen!

Gerlinde war nie mit von der Partie, es langweilte sie. Tatsächlich sah man sie immer seltener, manchmal durchs Haus huschen, etwas mürrisch. Wilfried hatte mitbekommen, was Gerlinde fehlte, er hatte einmal einen Streit mitangehört, als seine Eltern glaubten, er sei auf dem Spielplatz.

Er hörte Sätze wie: „Du gehst da nicht mehr hin!“ und „Der kommt mir nicht ins Haus.“ Und „Ab acht Uhr gehst du nicht mehr aus dem Haus! Wehe, ich erwisch dich noch einmal!“

Sie hatte anscheinend einen Mann kennengelernt, vielleicht hatte sie einen Freund, man hörte ja manchmal davon von anderen Jungs. Warum sie den nicht haben durfte, verstand er nicht. Er hatte doch auch Freunde. Aber zunächst mal gab es eine Namenstags-Feier, Wilfried hatte Namenstag, und die Feier fand bei den Schanzes im Garten statt.

Diese Feiern waren immer ein großes Ereignis. Viele Freunde durften kommen, es gab Kuchen, Rätselspiele, Luftballons, Topfschlagen. Die Schanzes hatten ein Reihenhaus mit einem Garten, so wie alle in der Siedlung, in welchem diese Feiern stattfanden. Vorher musste natürlich geputzt werden, und man sah Frau Schanze und Gerlinde beim Schrubben, Gardinen aufhängen, Backen, sie konnten einem richtig leidtun. Besser war es, man stand nicht im Weg rum und verzog sich zu Freunden.

Zum Beispiel zu Hartmut. Dessen Vater baute immer so schöne Schiffe aus Holz, nach Bausätzen. Mit der Laubsäge sägte er Schicht um Schicht aus und klebte sie aufeinander, pinselte sie dann mit Lackfarbe an. Es musste alles wasserdicht gemacht werden. Hartmut half ihm dabei, er durfte sogar einen Elektrobohrer benutzen. So etwas hatten Schanzes nicht. Überhaupt hatten sie vieles nicht, das andere hatten. Zum Beispiel einen Kühlschrank. Gekühlt wurde im Keller. Eine elektrische Waschmaschine, da hatten sie noch den alten Holzbottich mit dem Wassermotor. Eine Zentralheizung, sie hatten noch Kohleöfen. Und ein Telefon hatten sie auch nicht.

„Vater arbeitet schon sechs Tage, da soll er sich am Sonntag ausruhen. Außerdem ist dann ja Heilige Messe“, sagte Wilfrieds Mutter.

Hartmut lernte viel bei seinem Vater. Er musste auch nicht beten und um halb sechs sonntags morgens aufstehen, um sich für die Messdienertätigkeit fertig zu machen. Warum waren die Dinge in der Welt so ungerecht verteilt?

Zur Namenstagsfeier waren alle mehr oder weniger nett gekleidet. Es wurde gesungen, im Kreis getanzt, Kakao geschlürft. Gerlinde war auch mit dabei, sie hatte eine Freundin eingeladen. Sie hieß Margret. Hans flüsterte Wilfried zu: “Die ist aber hübsch. Die hätte ich gern als Freundin.“

„Du“, lachte Wilfried, „du als Freund. Das ist lustig.“

Wie konnte er so etwas sagen, dachte er dabei, konnte er das denn schon beurteilen, in seinem Alter?

„Gerlinde hat so ein breites Kinn“, sagte Hans. „Margret hat so eine lange Nase“, sagte Wilfried. Aber, er konnte sich der Offenheit, der Unbefangenheit und dem Charme Margrets doch nicht ganz entziehen, und er wollte beim Spielen gerne mit ihr in einer Mannschaft sein.

Dann musste Margret gehen, und die Jungen schauten traurig hinterher. Gerlinde ging auch auf ihr Zimmer, und so endete eine schöne Namenstagsfeier.

Wilfried trug immer Lederhosen, man hat ihn nie anders gesehen. Sie gingen nicht so leicht kaputt, sie hielten ewig. Dabei war Wilfried viel vorsichtiger als seine Freunde. Er kletterte nicht über Zäune, das sei zu gefährlich, hatten seine Eltern gesagt. Er zwängte sich nicht durch Baustellenzäune, das sei verboten, hatten sie gesagt. Er ging nicht durch Matschtümpel und kletterte nicht auf Bäume. Wozu brauchte er dann Lederhosen? Ganz einfach, in der Schule benutzte der Lehrer einen Rohrstock, da war man mit einer Lederhose gut aufgestellt.

In der Klasse saß Wilfried ziemlich in der Mitte der zweiten Reihe und damit immer im Blickpunkt des Lehrers. Rechts neben ihm saß Hans, und daneben Hartmut. Mädchen gab es keine, die wurden nebenan von Frau Klöbener unterrichtet.

So ganz leicht fiel Wilfried die Schule nicht. Wenn er direkt nach dem Mittagessen die Hausaufgaben machte, dauerte es lange bei ihm. Die anderen Kinder hörte er längst mit ihren Rollschuhen draußen herumfahren, da saß er immer noch da. Aber seine Mutter ließ nicht ab.

Immer konnte sie ihm auch nicht helfen, sie war Schneiderin.

„Ja, wie sollt ihr das denn machen, wie hat der Lehrer das denn gemeint?“

Wilfried wusste es nicht, und so kam es, dass er manches Mal mit unvollständigen Hausaufgaben in die Schule kam und, wenn der Lehrer schlecht gelaunt war, Hiebe bekam. Noch schlechter dran waren allerdings die Jungen, die viel Blödsinn machten und in der Klasse schwätzten, der Rohrstock war ihr ständiger Begleiter.

Hinter dem Schulhof gab es auch einen kleinen Schulgarten, hier konnte Wilfried seine Kenntnisse ausspielen, dies war sein Lieblingsort.

Warum gab es Tag und Nacht, warum Ebbe und Flut? Warum Sommer und Winter, warum friert Wasser bei null Grad? Wie konnte es sein, dass Menschen auf einer Kugel lebten, ohne herunterzufallen – so hieß es jedenfalls? Konnte man die Sterne zählen, wie es in dem Lied hieß?

Sein Vater konnte Wilfried diese Fragen nicht beantworten, frag deinen Lehrer, sagte er nur, und so fragte Wilfried Hartmuts Vater, wenn er mal da war. Der wusste es, er hatte auch einen Globus und allerlei Gegenstände in seiner Werkstatt, um es zu erklären. Und er hatte Geduld. Dafür spielte Wilfried mit ihm manchmal Schach.

Wilfried wachte eines Nachts auf und hörte seine Schwester schreien.

„Lass mich los. Lass mich los“, schrie sie.

„Du Hure. Dir wird‘ ich’s zeigen“, hörte er die Stimme seines Vaters. War es die seines Vaters, so schrill, so laut? Es musste sie sein. Er hörte dumpfe Geräusche, noch mehr Schreien, und dann war es still. Wilfried traute sich nicht aus dem Zimmer und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

Diese Nacht träumte er, er wär im Gebirge, und Wölfe verfolgten ihn, er rannte in eine Schlucht hinein, aber seine Beine wurden immer lahmer, je mehr er sich anstrengte. Er versuchte die Felswände hochzuklettern, rutschte aber ab. Die Wölfe waren nun dicht bei ihm, er unternahm eine letzte Anstrengung – und wachte auf. Seine Mutter stand neben dem Bett

„Was ist los?“ fragte sie.

„Nichts“, sagte er.

„Deck dich zu“, sagte sie, „du erkältest dich“, und schloss die Tür.

Am Morgen fand er seine Mutter aufgelöst in der Küche.

„Was ist?“, fragte er.

Seine Mutter sah ihn an.

„Gerlinde ist weg.“

„Wo ist sie denn?“

„Ich weiß es nicht.“

„Kommt sie zurück?“

„Ich weiß es nicht.“

Wilfried fühlte alle Emotionen, und er wusste nicht, ob er froh oder traurig sein sollte. Tausenderlei Gedanken gingen durch seinen Kopf. Doch dann lenkte ein plötzlicher Impuls seine Schritte zu seiner Mutter, er legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte: “Sie kommt bestimmt zurück.“

Inhaltlich hatten seine Worte keine Bedeutung, aber er spürte, dass er den Satz jetzt sagen musste.

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