Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Horsts Kindheit im Ruhrgebiet

Auf den letzten Blättern des Fotoalbums entdeckte Robert Beckmann mehrere Bilder einer Familie aus dem Westen. Roberts Vater hatte Werner Andem, der ihm die Bilder geschickt hatte, während eines Berlin-Besuchs kennengelernt. Ein Foto zeigt die Kinder der Familie Andem, Horst und Christine, mit einem Nachbarjungen beim Plantschen in einem Wasserbottich. Kurz bevor das Foto aufgenommen wurde, war Werner Andem mit seiner Familie von Bottrop nach Gladbeck gezogen. Er hatte gerade die Steigerprüfung bestanden und seine erste Stelle als Steiger auf einer Zeche in Gladbeck angenommen. Die vierköpfige Familie stand also vor einem Neuanfang. Die Kinder mussten sich nach neuen Freunden umsehen und in der neuen Umgebung eingewöhnen.

So kam Horst Andem im Jahr 1957 auf die katholische Volksschule in Gladbeck Rentfort. Die junge Klassenlehrerin war damals noch das „Fräulein“, erzog ihre Schüler mit Herz und Konsequenz und war allseits beliebt. Horst, ein ziemlich schmächtiger Junge, musste zunächst einmal seinen Platz unter den Mitschülern finden und galt in der Eingewöhnungsphase als kleiner Rüpel. Nach kurzer Zeit fand er dann neue Spielkameraden und gleichaltrige Nachbarskinder, sodass die Eingewöhnungsphase schnell beendet war. Den Schulweg von ca. einem Kilometer legte man zu Fuß zurück, holte unterwegs noch Mitschüler ab, kam an der evangelischen Volksschule vorbei und lief schließlich pünktlich auf dem Schulhof ein. Beim Klingelton ging es dann in Reihe und Glied in den Klassenraum. Geschrieben wurde auf Schiefertafeln mit einem Griffel, später wurde alles mit einem feuchten Schwamm abgewischt. In den folgenden Jahren wurden Schiefertafel und Griffel von Papier und Bleistift abgelöst. Die Lehrer waren absolute Respektspersonen und von Schülern und Eltern in ihrer Arbeit akzeptiert. Vieles lief unkonventioneller ab als heutzutage, spontaner und weniger hinterfragt. So erzählte Horts Mutter von einem Elternsprechtag, den der Schulrektor einleitete mit einer eigenen Klettervorführung an der Stange in der Sporthalle. Die Eltern waren beeindruckt. Jener Schuldirektor gab den Sportunterricht in Horsts Klasse. Schüler, die das Sportzeug vergessen hatten oder wegen kleiner Wehwehchen am Sportunterricht nicht teilnehmen konnten oder aus welchem Grund auch immer befreit waren, konnten es sich nicht einfach als Zuschauer bequem machen. Sie mussten z.B. am Rande der Sporthalle das Fahrrad des Rektors putzen oder sich auf irgendeine andere Art und Weise nützlich machen. Somit waren sie ständig unter Kontrolle.

Zweimal im Jahr rief der Rektor, der auch sehr musikalisch war, seine Schüler im Schulgebäude zum gemeinsamen Singen zusammen. Er selbst spielte Geige, und die Schüler mussten dazu Volkslieder singen. Das kam bei den Kindern nicht besonders gut an, und fast alle machten sich darüber lustig.

Ansonsten wurde im Unterricht fleißig gelernt. Buchstabe für Buchstabe, später abschreiben und kleine Diktate, Heimatkunde usw. Im Deutschunterricht hat sich die Rechtschreibung eines Wortes tief in Horsts Wortschatz eingeprägt. Als er das Wort „nämlich“ mit „h“ schrieb, schimpfte seine Lehrerin geradezu im Zorn: „Wer nämlich schreibt mit „h“ ist dämlich!“ Das hatte er verstanden, überstanden und niemals vergessen. Wenn Rechnen angesagt war, gab es hin und wieder das Schnellrechnen: Wer ist der schnellste beim Addieren oder Subtrahieren von 10 Aufgabenpäckchen? Horst lag bei diesen Aufgaben immer an vorderster Stelle. Rechnen das lag ihm. Benahmen sich Schüler daneben, wurden sie auch schon mal mit dem Rohrstock gestreichelt.

Zusätzlich zu ihrem Lehr- und Erziehungsauftrag war die Schule auch für die Organisation des sonntäglichen Kirchgangs zuständig. Jeden Sonntagmorgen versammelten sich die Schüler, es handelte sich ja um eine katholische Volksschule, im Schulgebäude, von wo aus sie sich gemeinsam zum Kirchenbesuch aufmachten. Alles war geregelt. Das galt auch für die Heilige Messe: Männer rechts, Frauen links des Mittelgangs. Wenn die Kinder zu laut waren, scheute sich der Pastor nicht, sie direkt anzusprechen und zur Ruhe zu mahnen.

Ja, die Schule hatte schon immer umfangreiche Aufgaben. Die Elternhäuser respektierten diese Institution und standen dahinter.

Horst bewohnte mit seiner Familie die Hälfte eines Zechenhauses mit großem Garten, Hühnerstall und Schuppen für alte Bretter, Werkzeuge, Gartenmöbel und Gartengeräte. Direkt an diesen Garten grenzte ein Bahndamm als Zufahrt zu der Zeche, auf der sein Vater arbeitete. Für die Kinder gab es alle Möglichkeiten draußen zu spielen und viel Freiheit, allerdings immer unter Nah- oder Fernbeaufsichtigung der Mütter, die letztlich alles mitbekamen, entweder direkt oder durch das Mitteilungsbedürfnis ihrer Sprösslinge. Nach Schule und Hausaufgaben trieb es die Kinder meistens nach draußen, und da konnten sie so ziemlich alles machen: Rollschuh- und Fahrradfahren, Fußballspielen, Schleuderbüchsen schwenken mit kokelnder Baumrinde als Inhalt, selbst gebaute Drachen steigen lassen auf den herbstlichen Stoppelfeldern, im Winter Eishockey spielen auf zugefrorenen Großpfützen mit einer Milchbüchse als Puck und einem passenden Ast als Schläger und vieles mehr.

Ein besonderes Abenteuergebiet war der nahegelegene Bahndamm mit einer Brücke. Dort konnte Horst mit den Nachbarjungen herumtoben und Dinge ausprobieren. Einer kam auf die Idee, Nägel auf die Schienen zu legen und von dem herannahenden Zechenzug platt fahren zu lassen. Der Zug kam, man schmiss sich seitlich auf den Bahndamm, um nicht gesehen zu werden, denn dann würde der Lockführer mit heißem Wasser die ungebetenen Gäste vertreiben. Und siehe da, die Nägel waren platt, der Zug nicht entgleist und die Aktion gut gelaufen.

Das Kinderleben war spannend und abwechslungsreich. So wollte Horst eines Tages einen Taubenstall im Schuppen bauen. Seine Mutter war überhaupt nicht begeistert. Horst machte sich dennoch an die Arbeit. Beim Zusägen eines Bretts rutschte die Säge ab und traf von oben den linken Zeigefinger. Über die Länge von einem Zentimeter war die Haut aufgerissen und der Knochen sichtbar. Was wurde gemacht? Horsts Vater nahm ein flaches Plastikstück als Schiene, legte es unter den Finger, verband Finger und Schiene und erklärte die Behandlung für abgeschlossen. Das Ergebnis war ein gut verheilter Zeigefinger mit einer glatten Narbe. Ein Arzt wurde nur ganz selten aufgesucht. Hinzu kam, dass der zuständige Hausarzt nicht gerade vertrauenerweckend war und man in seinem Wartezimmer auf verschlissenen alten Holzstühlen und zwischen Ausstellungsvitrinen mit verrosteten Anschauungsinstrumenten sitzen musste. – Der Taubenstall wurde übrigens nie fertiggestellt.

Ein Areal mit umfangreichen Spielmöglichkeiten war ein alter, etwas herunter gekommener Spielplatz jenseits des Bahndamms. Den erreichten die Kinder durch eine Unterführung, deren stählerne Konstruktion wunderbare Möglichkeiten zum Herumtoben bot. Der Spielplatz lag in einer verwilderten Umgebung und eignete sich bestens zum stundenlangen Fußballspielen. Ab und zu hatten die Fußballspieler auch einen Zuschauer: ein einsamer Tippelbruder, der aus seiner großen Flasche Lambrusco genüsslich Schluck um Schluck in sich hinein kippte. Etwa 100 Meter vom Spielplatz entfernt floss die „Köttelbecke“, ein offener Abwasserkanal, der in einem Betonbett geführt wurde. Dort hielten sich Horst und seine Freunde gerne zum „Angeln“ auf. Tote Ratten wurden mit Stöcken herausgefischt oder serienweise Kondome, die am Ufer in Reih und Glied ausgelegt wurden. Das erzählte man zu Hause nicht. Man hatte so seine Geheimnisse.

Unter seinen Spielkameraden konnte Horst einmal besonders glänzen. Es war die Zeit der Seifenkisten. Die einfachste Konstruktion bestand aus einem Brett und zwei Kinderwagenachsen mit Rädern, von denen eine Achse über ein Seil lenkbar war. Einer musste das Gefährt per Stock schieben, und der Fahrer konnte wie ein Pascha über den Bürgersteig steuern. Da kam Horsts Vater ins Spiel. Der war ein Bastler und Tüftler und baute dem Sohnemann eine von allen bewunderte Seifenkiste mit folgenden Merkmalen: aus Blech geformte Frontpartie, akkubetriebene Lichtanlage, Lenkrad mit Lenkspindellenkung, bequemer Sitz und weitere Besonderheiten. Da wollte natürlich jeder Nachbarjunge einmal den Fahrer spielen. Der soeben erwähnte Konstrukteur, Hosts Vater, war ein hobbymäßiger Amateurfunker. Wenn er in seiner Funkerbude unter dem Dach auf Sendung ging, fielen schon mal die Fernsehgeräte der Nachbarn aus. Aber damit hatte er selbstverständlich nichts zu tun.

Schweißtreibendes Spielen machte durstig. Die Erfrischung holte man sich zu Hause, aber nicht aus einer Mineralwasserflasche, sondern aus einem Wasserkran an der Außenwand des Hauses. Das tat so richtig gut.

Die Haushälfte, in der Horst mit seiner Familie wohnte, besaß fünf Zimmer und ein recht primitives Badezimmer mit Wanne und kupfernem Kohleheizkessel für das Badewasser. Das Familienleben spielte sich hauptsächlich in der großen Küche ab, die einen Kohleherd und ein Porzellanwaschbecken mit Kaltwasserkran besaß. In allen weiteren Zimmern standen Kohleöfen, später Koksöfen. Beheizt wurde im Regelfall aber nur die Wohnküche. In der kalten Jahreszeit wurde jeden Morgen sofort der Küchenofen angeworfen. Zuerst wurde Zeitungspapier in den Brennraum des Küchenofens gestopft, darüber feine mit der Axt gehackte Holzstückchen und als oberste Schicht gröbere Holzstückchen. Wenn letztere nach dem Anstecken richtig brannten, kam über die abgehobene Kochplatte Kohle darauf, und dann wurde es langsam warm und gemütlich. Das angrenzende Wohnzimmer wurde nur zu besonderen Anlässen beheizt, z.B. zu Weihnachten. Die zum Heizen benötigte Kohle, Eierkohle oder Anthrazitkohle, wurde einmal im Jahr als Deputat von der Zeche angeliefert und von einem Zechenarbeiter in den Kohlenkeller des Hauses verbracht. Reichlich Staub und Dreck im gesamten Keller waren stets das Ergebnis dieser Aktion.

Im Keller befand sich auch die Waschküche. Wenn Horst von der Schule kam, konnte er sofort feststellen, ob Waschtag war. Dann zog der Wasserdampf aus den weit geöffneten Waschküchenfenstern nach draußen, und seine Mutter, zum Schutz der Haare mit Kopftuch, war in den Dampfschwaden kaum zu erkennen. Waschen war Schwerstarbeit. Die Kochwäsche kam in einen großen Metallbottich, der mit Kohlefeuer beheizt wurde. Mit einem speziellen Wäschestampfer, Wäscheglocke genannt, wurde sie immer wieder durchgewalkt. Von dort aus ging es dann in eine Waschmaschine. Es handelte sich um eine Wassermotor-Waschmaschine mit Oberantrieb und aufgepflanzter Wäschemangel. Durch Wasserkraft wurde in einem großen zylindrischen Holzgefäß ein mittig gelagertes Metallkreuz mit vier senkrechten Holzzapfen hin und her gedreht, wodurch die Wäsche mitgenommen und so gereinigt wurde. Anschließend wurde die Wäsche mit einem Handkurbeltrieb durch die beiden Walzen der auf dem Deckel montierten Wäschemangel gezwängt. Die Waschtage waren für Horsts Mutter die anstrengendsten Hausfrauenarbeiten, und sie war immer froh, wenn die vorbei waren. Aufgehängt wurde die Wäsche im Winter im Keller, im Sommer auf der Wäscheleine im Garten.

Bei der vielen Arbeit gab es für Horsts Mutter nur wenige Momente der Entspannung. War es aber einmal so weit, dann setzte sie sich an den Küchentisch, gönnte sich eine Tasse Kaffee und eine Zigarette und las für einige Minuten in der Tageszeitung.

Horsts Vater kümmerte sich um Haus und Garten und war durch seine Tätigkeit als Steiger ebenfalls ordentlich belastet. Die vielen Nachtschichten nagten an seiner Gesundheit, sodass er häufig unter Magenschmerzen litt. Von all dem bekamen die Kinder nur am Rande etwas mit.

Seinen Kindern gegenüber hatte der Vater schon mehrfach erwähnt, dass er ein Auto kaufen wollte, möglichst einen gebrauchten Mercedes. Das hatten die natürlich sofort den Nachbarskindern erzählt und waren nun in „freudiger Erwartung“, denn Privatautos waren damals keine Selbstverständlichkeit. Und dann war es soweit. Vor der Haustüre stand ein alter klappriger Lloyd 600. Den hatte Horsts Vater für 800 DM gekauft, und zwar ohne Wissen seiner Frau. Und das Schlimmste: Zur Finanzierung hatte er einen Wechsel unterschrieben. Für Wochen hing der Haussegen schief und die Nachbarskinder machten sich über den vermeintlichen Mercedes lustig. Das etwas unansehnliche Fahrzeug wurde in einer Zechenwerkstatt grau gespritzt und tat dann über Jahre hinweg seinen Dienst.

Mehrere schöne Kindheitsjahre vergingen. Die Jungen lagen im Garten auf der Erde und spielten mit kleinen Modellautos. Zum Sonnenschutz hatte Horsts Vater selbst einen Sonnenschirm gebaut. Als Stiel diente ein leichtes Stahlrohr, die Speichen bestanden aus dünnen Flachstahlstreben, die mit Stoff, den die Mutter zusammengenäht hatte, bespannt wurden. Auf dem Bürgersteig war „Knickern“ mit Murmeln angesagt oder Hinkeln, bei dem meist die Mädchen beteiligt waren. Raketen wurden gebastelt, in der nahen Schonung wurden Stichlinge gefangen, die zu Hause in einem rechteckigen Steintrog ihr Dasein fristen mussten, immer unter der Gefahr, von einer Katze herausgefischt zu werden. Bei aller Spielerei gab es natürlich auch den Ernst des Lebens.

Im vierten Schuljahr stand die Entscheidung an, ob Horst auf das Gymnasium geht. Horst war unbedingt dafür. Also Anmeldung und Aufnahmeprüfung! Nach nervenaufreibenden Tagen des Wartens kam Post vom Gymnasium. Und der Jubel war groß: Horst war angenommen. Sein bester Freund hatte die Aufnahmeprüfung ebenfalls bestanden, sodass beide später das Jungengymnasium gemeinsam besuchten. Der Unterricht war schon eine etwas andere Nummer als auf der Volksschule. Mit Ernst und Lernwillen ging es an die Arbeit. „Mr. Fox has a dog“, das war eine der ersten Englischstunden wohl auf nahezu jedem Gymnasium. Und im Erdkundeunterricht hatte der zuständige Lehrer schon damals empfohlen, die dunkelhäutigen Menschen am besten als „Afrikaner“ zu bezeichnen, wobei deren Herkunft ja mit Sicherheit nicht immer Afrika war. Der Spitzname eines Kunstlehrers war „Lupo“, was ihn fürchterlich aufregte. Als ein Mitschüler vor dem Kunstraum einmal „Tür zu!“ schrie, hatte der Lehrer „Lupo“ verstanden und machte einen Riesenaufstand.

Horst und sein Freund legten den Schulweg mit dem Fahrrad zurück, egal bei welchem Wetter. Manchmal hatten sie einen Schul-Sportnachmittag. Dann ging es zusätzlich nachmittags zur Schule und von dort aus auf einen nahegelegenen Sportplatz zum Leichtathletiktraining: Weitsprung, Laufen, Schlagballweitwurf, Kugelstoßen und zum Abschluss Fußball.

Horst musste sich ordentlich ins Zeug legen, um den schulischen Anforderungen gerecht zu werden. Jeden Tag gab es für Stunden Hausaufgaben. Die Zeit zu spielen wurde immer kürzer. Da kamen dann die Ferien ganz recht, um sich endlich zu erholen. Die Nachbarn fuhren in jedem Jahr in den Sommerferien mit ihrem VW Käfer für drei Wochen nach Österreich an den Ossiacher See. Während dieser Zeit war Horst ziemlich allein und wartete auf deren Heimkehr, denn Horsts Familie fuhr nie in Urlaub. Man spazierte zum wenige Kilometer entfernten Schloss Wittringen, machte dort eine Bootsfahrt mit dem Ruderboot, oder es ging mit dem Fahrrad auf eine kleine Tour, die manchmal schon vor dem Start endete, weil die Mutter nicht rechtzeitig fertig war.

Einmal gab es dann doch einen Kurzurlaub. Für drei Tage fuhr die Familie in ihrem Lloyd 600 nach Den Haag, zur Schwester eines Opas. Auf der Hinfahrt wurde auf dem Seitenstreifen der Autobahn gepicknickt. Bei der Ankunft in Den Haag war Horsts Großtante reichlich überrascht, denn der Besuch war nicht angemeldet. Dennoch konnte die Familie zwei Nächte bei ihr übernachten, bevor es zurück nach Deutschland ging. Das war Horsts erste Auslandsreise mit vielfältigen Eindrücken aus dem Nachbarland; insbesondere blieben die schmackhaften typisch holländischen Gebäckstücke der Großtante in Erinnerung.

Zu Hause machte Horst dann auch noch Bekanntschaft mit der Polizei. Von einem Verwandten hatte er ein altes, nicht fahrbereites Moped mit Erlaubnis der Eltern geschenkt bekommen. Das schob Horst mehrere Kilometer weit nach Hause. Sofort machte er sich an die Arbeit und versuchte es zu reparieren. Und tatsächlich, irgendwann wurden alle Mühen belohnt. Der Motor sprang an, und die Freude war groß. Jetzt ging es ans Ausprobieren. Horst fuhr Runde um Runde um den Kirschbaum im Vorgarten des elterlichen Hauses, bis ihm dieses zu langweilig erschien. Ein kurzer Blick entlang des Bürgersteigs. Alles war frei. Jetzt konnte Horst endlich mal eine etwas längere Strecke zurücklegen. Er war keine zwanzig Meter unterwegs, als er schnurstracks in die Arme eines Schutzmanns fuhr, der auf Streife mit seinem Motorrad unterwegs war. Erst einmal gab es ein Donnerwetter an Zurechtweisungen, und dann wollte der Polizist seine Eltern sprechen. Da aber kein Elternteil zu Hause war, kam Horst mit einem blauen Auge und einem ordentlichen Anpfiff des Ordnungshüters davon.

In einer erholsamen Langeweile vergingen die meisten Schulferien, und an deren Ende war man stets aufgeregt, weil die Schule wieder begann.

Das ging so weiter bis 1964. Der Steinkohlebergbau verlor an Bedeutung, wurde unrentabel, und eine Zeche nach der anderen musste schließen. Horsts Vater zog die Konsequenzen und schaute sich nach einem anderen Arbeitsfeld um. Nach kurzer Suche fand er eine neue Arbeitsstelle an einem Straßenbauamt im Sauerland. Er nahm sich ein kleines Zimmer in Letmathe und kam an den Wochenenden heim nach Gladbeck. Wehmut machte sich bei seiner Familie breit, denn unweigerlich stand ein Abschied und damit verbunden eine große Veränderung im Leben aller Familienmitglieder an. Schließlich kam der Tag des Umzugs. Ein Möbelwagen mit Anhänger fuhr vor und machte sich nach dem Beladen auf den Weg zu einer Mietwohnung in Letmathe. Das war Horsts endgültiges Adieu von der Heimat im Ruhrgebiet, einer Heimat, die er in dieser Form – gewachsenes Urvertrauen, geerdete Menschen, tief verwurzelte innere Bindung – nie wieder finden sollte.

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