Auszug aus dem Text:
Robert hatte nach dem Sommersemester 1971 sein Vordiplom in Chemie abgeschlossen und sich um ein Zimmer im Studentenwohnheim beworben. Er konnte seinen Augen kaum trauen, als er schon nach wenigen Monaten ein Schreiben des Studentenwerks erhielt, in dem ihm ein Zimmer im Wohnheim an der Stockumer Straße 370 in Dortmund Eichlinghofen angeboten wurde. Das würde seine wirtschaftliche Lage enorm verbessern. Anstelle der 150 DM, die er zuvor für das im Winter nur spärlich beheizte Zimmer im Dachgeschoss eines Einfamilienhauses in Dortmund Gartenstadt zahlen musste, kostete das Zimmer im Wohnheim nur 90 DM einschließlich aller Nebenkosten. Sein Weg zur Universität würde sich durch den Umzug entscheidend verkürzen. Statt vom östlichen Stadtrand durch die ganze Stadt bis zum Aufbau- und Verfügungszentrum der Universität am westlichen Stadtrand zu fahren, konnte er den Weg vom Studentenwohnheim zur Universität zu Fuß zurücklegen. Auch die Zusammenarbeit mit den Kommilitonen war jetzt viel einfacher, da mehrere von ihnen bereits zu Beginn des Studiums ein Zimmer in diesem Wohnheim bezogen hatten.
Roberts Kommilitonen hatten vier junge Frauen kennen gelernt, die an der Universitätsbibliothek eine Ausbildung zur Bibliothekarin machten. Bald trafen sie sich regelmäßig mit ihnen, insbesondere nachdem sich Gustav, ein Kommilitone, in eine der Frauen verliebte und sie bald nur noch zu zweit auftauchten. Häufig feierten sie mit den angehenden Bibliothekarinnen in einer Mansardenwohnung, in der eine von ihnen mit zwei anderen jungen Frauen in einer Wohngemeinschaft zusammenlebte.
An eine Feier in dieser Wohnung erinnert sich Robert nur ungern. Die Feier startete am frühen Abend und es wurde viel, wenn man es ehrlich sagen soll, zu viel getrunken. Mit dem schwindenden Tageslicht öffnete Gunwald, ein Kommilitone aus seinem Semester, ein Mansardenfenster, lehnte sich weit heraus und segnete Stadt und Erdkreis. Für dieser Handlung hatte er Hemd und Unterhemd ausgezogen und sich den roten Bademantel der Gastgeberin, der ihm viel zu klein war, über die Schultern gehängt. Nur mit Mühe gelang es den anderen, ihn wieder in den Raum zu ziehen und so zu verhindern, dass er aus dem Fenster stürzt oder sich noch länger als Ruhestörer betätigt. An ernsthafte Gespräche war bei dieser Feier nicht zu denken, so dass Robert ein Bier nach dem anderen trank. Das war er nicht gewohnt. Am Ende der Feier, als er müde, aber schon wieder etwas nüchterner war, fand er sich allein mit Marta, der Gastgeberin in einem der Wohnräume wieder. Marta saß neben ihm auf der Couch, lehnte sich an seine Seite, legte ihren Arm über seine Schultern und fragte, ob er einen Wunsch hätte. Mit einem Augenaufschlag ergänzte sie, dass Männer doch immer einen Wunsch haben. Hatte er sich verhört? Diesen Wunsch hatte Robert definitiv nicht. Er fand Marta nett, aber faszinierend fand er nur Frauen, die Freude daran hatten, sich mit ihm auch über Literatur, Philosophie oder Naturwissenschaften zu unterhalten. Trotz seines angetrunkenen Zustandes erinnerte er sich daran, dass ein Kommilitone, der vor einigen Wochen eine Affäre mit Marta hatte, einen Bekannten verschämt danach gefragt hatte, was man gegen Filzläuse tun kann. Er ekelte sich und rückte ein Stück von Marta ab. Nicht auszudenken, was er empfunden hätte, wenn die Ergebnisse der evolutionsbiologischen Arbeiten zur Herkunft der Filzläuse bereits damals bekannt gewesen wären. Anders als Kopfläuse, die den Menschen schon immer als Parasiten besiedelt hatten, haben Filzläuse erst viel später ihre evolutionäre Entwicklung als menschliche Parasiten begonnen. Ihre Gensequenz hat große Ähnlichkeit mit den Läusen, die als Parasiten beim Gorilla vorkommen. Es spricht alles dafür, dass Filzläuse im Zuge ihrer evolutionären Entwicklung vom Gorilla auf den Menschen übergegangen sind. Man mag sich nicht vorstellen, wie das passiert ist.
Erst nach einer kurzen Gesprächspause, die Roberts Alkoholkonsum und seinem krampfhaften Bemühen, die Situation wieder einzufangen, geschuldet war, antwortete er Marta, dass er viel zu müde und auch zu angetrunken sei, um noch irgendeinen Wunsch zu haben. Er müsse sich jetzt unbedingt auf den Heimweg machen, um nicht auf der Stelle einzuschlafen. In einem Nachbarzimmer fand er noch zwei Kommilitonen, die sich in einem ähnlich erbärmlichen Zustand befanden und machte sich mit ihnen auf den Heimweg. Das heißt, er versuchte zunächst ohne Stolpern und Stürzen über die steile Treppe von der Mansarde ins Erdgeschoss zu gelangen. Fast hatten sie es geschafft, als Robert von dem nach ihm gehenden Kommilitonen auf den letzten vier Stufen, mit denen die Treppe ihre Richtung um neunzig Grad ändert, leicht angestoßen wurde und das Gleichgewicht verlor. Als geübter Eisläufer stürzte er aber nicht, sondern stellte das Becken nach außen und bremste seinen Sturz mit einem Bodycheck gegen die Mauerkante ab, hinter der die Tür zur Wohnung der Vermieter lag. Dies half Robert, sein Gleichgewicht zu halten. Der Putz der Mauerkante war der Energie des Aufpralls aber nicht gewachsen. Ein großes Stück der Mauerkante brach ab und zerfiel auf dem Fußboden in unterschiedlich große Fragmente. Offensichtlich hatte man in der Wohnung des Vermieters ihren Aufbruch bereits mitbekommen. Die Tür wurde geöffnet und der Hausbesitzer blickte mit ungläubigem Staunen auf die Szene, während er nur noch die Worte „Jungs, macht nicht so einen Krach“ herausbrachte. Es war eine glückliche Fügung, dass unter den Gästen der Feier auch ein junger Mann war, der sich mit Maurerarbeiten auskannte und den Schaden am kommenden Tag fachgerecht verputzte. Nach diesem Erlebnis schwor sich Robert, nie wieder so viel zu trinken.