Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Hans im Finanzamt und in Amsterdam

Es geht für Hans auf die Zwischenprüfung im Sommer zu, und der Arbeitsaufwand für die Uni nimmt zu. Trotzdem muss die vorlesungsfreie Zeit im März/ April dazu genutzt werden, Geld zu verdienen, denn die Zuwendungen nach dem „Honnefer Modell“ reichen gerade für das Notwendigste. Er findet einen Ferienjob für sieben Wochen beim Finanzamt seiner Heimatstadt. Hier erwarten ihn und vier weitere Studenten im Dachgeschoß des Gebäudes riesige Stapel von Lohnsteuerausgleichsanträgen. Sie sortieren diese nun nach dem Alphabet, damit sie archiviert werden können. Auf diese Aufgabe sind sie durch ihr Abitur bestens vorbereitet, und so wird für jeden Buchstaben zunächst einmal ein Stapel angelegt, danach schnappt sich jeder Anträge und verteilt sie auf die einzelnen Haufen, wobei er im Kreis um die zusammengestellten Tische herumgeht. Anschließend wird innerhalb jedes Stapels sortiert. Nach vier Wochen ist diese Arbeit erledigt, und sie machen sich daran, die Anträge auf inhaltliche Stimmigkeit und Vollständigkeit der Belege zu prüfen.

Der Hit, der zu dieser Zeit im Radio am meisten gedudelt wird, ist ‚My Sweet Lord‘ von George Harrison. Bevor das Semester wieder losgeht, bleiben noch ein paar freie Tage, die Hans mit seinem Freund Wilfried für einen Trip nach Amsterdam nutzen will. Amsterdam ist zu dieser Zeit das Fluchtziel für alle, die den Zwängen der deutschen Provinzialität entfliehen wollen.

Ausgerüstet mit einem Schlafsack in ihrem Rucksack lassen sie sich von Ihrem Freund Otto zur Autobahnauffahrt bei Wesel bringen, wo sie den Daumen raushalten. Bald nimmt ein Autofahrer sie mit, und sie gelangen so bis an die Ringstraße von Amsterdam, wo die Autobahn endet. Den restlichen Weg in die Innenstadt legen sie mit der Straßenbahn zurück. Am Amsterdamer Hauptbahnhof bekommen sie an einem Kiosk einen Plan mit billigen Unterkünften. Sie entscheiden sich für ein ‚Sleep-In‘ im Harlemmer-Houtinen-Weg, das mit einem viertelstündigen Fußmarsch zu erreichen ist.

Hans und Wilfried wundern sich über die vielen alten Gebäude, die hier in Amsterdam herumstehen, anders als zu Hause, wo es wegen des Krieges praktisch keine intakten Altbauviertel mehr gibt. An ihrem Ziel angekommen steigen sie eine knarrende steile Treppe hinauf, und ein Mann mittleren Alters begrüßt sie und weist ihnen einen Schlafplatz auf einer Matratze zu. Sie befinden sich in einem größeren Raum, der mit lauter Matratzen und Schlafsäcken ausgelegt ist. Die meisten Bewohner sind ausgeflogen, und so legen sie auch nur ihre Sachen ab und machen sich auf den Weg durch die Stadt.

Die Atmosphäre der Stadt hat sie sofort eingefangen. So viele Grachten in der Innenstadt, das kannten sie nicht. Hausboote lagen dort, auf denen Gemüse gezogen wurde. Einige Hausboote waren ‚Sleep-Ins‘, in denen man übernachten konnte. Es war billig und roch nach Abenteuer. Sie betraten ein Café mit großen Holztischen, auf denen Teppiche als Tischdecken lagen. Langhaarige Männer und Frauen saßen herum und tranken Tee und rauchten Zigaretten. Vor sich hatten sie Päckchen liegen mit der Aufschrift ‚Samson‘ oder ‚Van Nelle’s‘. Sie enthielten Tabak, den sie auf ein kleines weißes Papier krümelten und zu einer Zigarette rollten. Mit Spucke wurde der aufgebrachte Klebstreifen befeuchtet und die Rolle verschlossen.

Auf dem Tisch stand eine große Schale mit Zucker, mit dem man seinen Tee süßen konnte. Fast jeder in diesem Raum rauchte oder drehte sich gerade eine Zigarette. Manche spielten Schach oder Tafli. Durch das große Fenster konnte man dem Treiben draußen auf der Straße und auf der Gracht zusehen. Im Lokal erklang Musik von Radio Veronika oder Radio Caroline, den Piratensendern, die auf Schiffen vor der holländischen Küste schwammen. In diesem Lokal konnte man den Tag vertrödeln, ohne von der Bedienung zum Verzehr gedrängt zu werden.

Hans und Wilfried schlenderten durch die engen Straßen mit ihren Backsteinhäusern mit schönen Fassaden, die Grachten entlang, über Brücken, vorbei an Blumenständen, kleinen Läden, sie kauften sich an einem Kiosk auch eine Packung ‚Van Nelle’s‘. Wie sie später feststellten, waren die selbstgedrehten Zigaretten nur halb so teuer wie fertige.

Auf der Kalverstraat, einer belebten Einkaufsstraße, kam ihnen eine Gruppe junger Leute in orange-farbenen Gewändern entgegen, die ein Lied sangen, das aus nur einer Zeile bestand, welche sie immer wiederholten: Hari Krishna, Hari Krischna, Hari Rama, Hari Hari. Die Amsterdamer störten sich nicht daran. „Sie haben ein Haus“, sagte jemand hinter ihnen, „dort bekommt man gratis eine Mahlzeit, wenn man mit ihnen singt.“

Auf dem Damplatz saßen auf den Stufen des Denkmals zahlreiche langhaarige junge Menschen, hier ließen sie sich auch nieder, es war das Zentrum Amsterdams. Dann ging es weiter durch die Damstraat vorbei an interessanten Läden mit chinesischen Artikeln wie Ballonlampen, Porzellanfiguren und bunten Schirmen bis zum Nieuwmarkt. Auffallend waren die vielen indonesischen Imbissbuden, wo es ‚Loempia‘, ‚Frikandel‘ und weiter asiatische Gerichte gab, die sie nach und nach ausprobierten. Auch ältere Holländer liefen hier mit langen Haaren herum, so etwas gab es in Deutschland nicht.

Ein Haus war mit Transparenten beklebt, und sie versuchten sie zu entziffern. „Dieses Haus ist besetzt“, sagte jemand. Wie sie später hörten, gab es zahlreiche alte leerstehende Häuser, die ‚gekraagt‘ worden waren, in denen sich Leute einfach niederließen und darin wohnten.

Am Abend besuchten sie einen der Klubs, die auf dem Informationsblatt, welches sie am Bahnhof bekommen hatten, aufgeführt war. Er lag an der Prins Hendrikkade. Es war ein mehrstöckiges Haus, die Zimmer waren abgedunkelt, Matratzen lagen auf dem Boden, auf denen man sich niederlassen konnte. Die Wände waren bemalt und bunt angeleuchtet. Aus den Lautsprechern erklang die Musik von Steven Stills ‚Love the One You’re With‘, und über allem hing der Geruch von Marihuana, welches die hier Anwesenden rauchten. 

So etwas hatten sie in Deutschland noch nicht gesehen. Sie verzehrten einen ‚Tosti‘, das heißt zwei Toastscheiben mit einer Käse- und einer Wurstscheibe dazwischen geklemmt, der preiswert war, tranken ein Glas Tee, und nach einer Weile machten sie sich auf zu ihrer Herberge. Dort waren inzwischen die meisten Mitbewohner schon eingetroffen, einige schliefen bereits, und Wilfried und Hans krochen in ihre Schlafsäcke. Es befanden sich auch einige Typen hier, die nicht den Eindruck machten als ließen sie sich noch in ein bürgerliches Leben integrieren. In der Küche hatte jemand die neue LP von Jethro Tull aufgelegt, ‚Aqualung‘, die er immer wieder umdrehte und von neuem abspielte, und zu der sie schließlich einschliefen.

Am nächsten Tag besuchten sie den Flohmarkt am Waterlooplein. Er war riesig, und Hans erstand einen Teppich als Tischdecke für seine Studentenbude. Nach drei Tagen trampten sie wieder zurück nach Deutschland. An der Grenze bei Emmerich machten die deutschen Zöllner ein ziemliches Aufhebens und untersuchten die beiden eingehendst; das Gefühl der Freiheit, das sie in Holland genossen hatten, war schnell verflogen.

Es dauerte allerdings nur kurze Zeit, bis Kneipen, in denen Rockmusik gespielt wurde, auch im Ruhrgebiet Verbreitung fanden, genauso schnell wurden ‚Drum‘ und ‚Van Nelle’s‘ Tabak in Deutschland heimisch, und Flohmärkte etablierten sich. Nur auf Sleep-Ins wartete man vergeblich, sie etablierten sich aber in Südeuropa, zum Beispiel in Athen. In Deutschland musste man noch mit Jugendherbergen und ihren strengen Sitten vorlieb nehmen, wenn man preiswert übernachten wollte.

Von dem beim Finanzamt erarbeiteten Geld erwarb Hans  einen neun Jahre alten VW-Käfer, der ihn mit seiner Reparaturanfälligkeit auf Trab hielt. Aber die Erlebnisse mit diesem Gefährt wären ein eigene Geschichte. Der Sommer bot noch ein Highlight in Form eines Trips nach London, den ein Studentenwohnheim in Bochum organisierte. Die Teilnehmer wohnten in einem Londoner Vorort, und es war überraschend zu sehen, wie dörflich London außerhalb der eigentlichen City war.

Und noch einen Höhepunkt hielt das Jahr 1971 bereit. Nach den Klausuren der Zwischenprüfung bot sich für Hans die Gelegenheit zu einem Trip zu Verwandten an die Mosel, wo er in einer Diskothek in Traben-Trarbach ein Mädchen kennenlernte, mit dem er in seinem Auto die Schönheiten des Moseltales  erkundete. Der Herbsthit dieses Jahres war ‚Imagine‘ von John Lennon.

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