Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Bennis Kampf um Bildung, Anerkennung, ein bisschen Wohlstand und Mobilität

Nach der Erstkommunion war Benni nun ein vollwertiger Katholik. Pflicht war der sonntägliche Besuch des Hochamtes um 10 Uhr, mit dem Empfang der Kommunion, der Besuch der Andacht um 14 Uhr, meist gefolgt von einem Besuch in der Dorfgaststätte, wo man das Programm für Kinder sehen durfte. Das allerwichtigste aber war die Beichte, die alle vier Wochen als Katholikenpflicht abgenommen werden mußte ,und ohne die ein Empfang der Kommunion eigentlich nicht möglich war. Sie begann mit der Gewissenserforschung, hatte den Höhepunkt im Beichtgespräch und endete mit der Buße. Das Beichtgespräch begann mit: „Meine letzte Beichte war vor vier Wochen „und endete mit :“ Dies sind alle meine bekannten Sünden, ich bereue sie von Herzen“. Das Beichtgespräch war also eher ein Vortrag, dem Pfarrer Balkenhol meist ohne Regung folgte, die Sünden waren immer dieselben, der Mutter nicht gehorcht, mit den Geschwistern gezankt, Süßigkeiten genascht. Die Buße war auch immer dieselbe, drei Vaterunser, das wars. Die einzige Rüge von Pfarrer Balkenhol bekam Benni, als er beichtete, seine letzte Beichte läge bereits acht Wochen zurück, weil er in Ferien in der Diaspora war und dort keine Beichtgelegenheit hatte. Das ging aber auch gar nicht.

Weil Benni ein guter Schüler war, beschloss Vater Heinrich schweren Herzens, ihn aufs Gymnasium in Heerse zu schicken. Schweren Herzens, weil Vater Heinrich große Zweifel hatte, ob er sich den Schulbesuch überhaupt leisten konnte. Das Gymnasium war eine vier km entfernte Privatschule, ein altsprachliches Gymnasium mit angeschlossenem Internat, die er als sogenannter Externer besuchte. Träger der Schule war der Orden vom kostbaren Blut.

Vor dem Schulbesuch lag eine Aufnahmeprüfung von zwei Tagen. Wegen der Krankheit von Lehrer Kletsch hatte Benni Rückstände in Mathematik, was ihm allerdings verziehen wurde, und so begann kurz nach Ostern 1961 seine Zeit in der Sexta.

Die 4 km Schulweg von Dringenberg nach Heerse legte er morgens mit dem Fahrrad zurück, vom Kommunionsgeld hatte er sich im nahegelegenen Paderborn ein neues Rad der Marke „Triebrad“ gekauft, immerhin für mehr als 200 Mark. Da es noch zwei Schüler aus Dringenberg gab, die das Gymnasium besuchten, radelten sie zu dritt bei Wind und Wetter den leicht ansteigenden Schulweg entlang. In Dringenberg war man verblüfft, dass ausgerechnet ein Flüchtlingskind das Gymnasium besuchte, und mancher missgönnte es der Familie Furstpaul und hoffte auf ein schnelles Scheitern von Benni. Doch ganz unerwartet erwies sich Benni als exzellenter Schüler, er war umgehend Klassenbester in Latein, was vor allem seinem Lehrer Röttelmann zu verdanken war. Der Lateinunterricht war lebendig und der Umgang mit den Kindern freundlich und respektvoll. Auch in Mathematik hatte Benni keine Schwächen und das galt auch für Deutsch. Wenig anfangen konnte er mit Musik und er war auch ein chronisch schlechter Sportler. In Kunst hatte er den etwas wirren Lehrer Winkelmann, der ihm allerdings Werken mit Ton, Kupfer und Holz beibrachte. Alles in allem war das Gymnasium in Heerse um Klassen besser als die Volksschule in Dringenberg.

Nun wurde das Internat ja von einem Orden betrieben und die dortigen Erzieher waren alle geweihte Priester. Das fand Benni schon etwas verschwenderisch, da ihm ständig beigebracht wurde, ein welch großes Problem der Priestermangel für die katholisches Kirche darstellte. Unter den Priestern gab es zumindest zwei merkwürdige Gestalten, als erstes den Internatsleiter Pater Rektor Quintus Haderach.

Der Pater Rektor war darauf erpicht, vor allem gutaussehende, Knaben zu strafen, dazu reichte ein Grinsen oder Reden, wenn sich die Schüler in einer Reihe aufstellen mussten. Es folgte dann eine Serie von Ohrfeigen ohne jeglichen Grund. Besonders bitter war das für die jungen Internatsschüler, die bestenfalls am Wochenende bei ihren Eltern sein konnten und so auf elterlichen Beistand und Trost verzichten mussten. Auf der anderen Seite ging das Gerücht, dass der Pater Rektor dabei half, Schüler an ganz bestimmten Stellen liebevoll einzucremen. Zum Glück passte Benni nicht in das Beuteschema dieses geistlichen Herrn.

Der andere bemerkenswerte Pater war Hubertus, der den Sextanern Religionsunterricht erteilte. Ein Höhepunkt war, dass Pater Hubertus seinen Schülern gern eine Schallplatte mit der „Missa Luba“ vorspielte. Dies war eine von Missionaren aufgenommene Messe aus Afrika mit afrikanischen Rhythmen und afrikanischen Gesängen, aber immer noch besser als dem normalen Religionsunterricht zu lauschen.

Eine andere Behauptung von Pater Hubertus war, die holländischen Katholiken hätten nach der Erlaubnis von Bußandachten geschrien: “Gebt uns die Ohrenbeichte wieder“. Pater Hubertus wurde auch einmal gefragt, ob es nicht möglich sei, dass das ganze Katholikentum letztlich auf einer Unwahrheit fuße weil es Gott gar nicht gäbe und er reagierte geradezu erschrocken: „Das wäre ja der größte Betrug, den man sich vorstellen könnte.“ Auch wurde Hubertus gefragt, warum denn Priester unverheiratet sein müssten und er erklärte, dies sei völlig selbstverständlich. Ein Diener Gottes habe keinerlei Probleme mit der Keuschheit und könne auf Sexualität diszipliniert verzichten.

Anfang der 60 er Jahre gab es für die Katholiken in Dringenberg und Heerse eine besondere Aktion zur Festigung des Glaubens, die Volksmission. An beiden Orten kamen jeweils zwei Volksmissionare zum Einsatz, das waren Geistliche, die die Aufgabe hatten, die Katholiken im Glauben zu stärken. Benni hatte somit mit vier Volksmissionaren zu tun, denn außer in der Kirche in Dringenberg war auch das katholische Gymnasium in Heerse Ziel der Volksmission. Wer jetzt mit freundlichen, den Menschen zugewandten Geistlichen gerechnet hatte, sah sich schwer getäuscht. Die erste Predigt eines hageren Missionars in Dringenberg ähnelte mehr einer Beschimpfungsrede. Selbstverständlich bestand für die Kinder Anwesenheitspflicht. Benni kam so in den Genuss einer Höllenpredigt und auch das Leiden Christi wurde ihm detailliert geschildert. Besonders die Geißelung, bekannt als Hinrichtung unter Folter, schilderte der Missionar in allen Einzelheiten. An der Schule in Heerse erfolgte sogar eine Art Sexualaufklärung durch einen der dortigen Missionare. Insgesamt führte das Gebaren dieser Maschinengewehre Gottes bei Benni eher zu tiefer Abscheu als zu einer Vertiefung des Glaubens.

Zum Schuljahreswechsel 1962 beendete Benni die Sexta als Klassenprimus und erhielt als Lob ein kleines Büchlein. Leider verließen auch sein geliebter Lateinlehrer Röttelmann und andere Mitglieder des Lehrerkollegiums die Schule. Gerüchte besagten, es habe Streit mit dem Pater Rektor gegeben. Dieser wurde allerdings ein gutes Jahr später ebenfalls von der Internatsleitung abgezogen.

Daheim in Dringenberg ging das Leben ebenfalls weiter. Bruder Markus, ein noch besserer Schüler als Benni, kam ebenfalls ins Gymnasialalter doch Vater Heinrich lehnte kategorisch ab, sich noch einen zweiten Gymnasiasten ans Bein zu binden. Ihm schwebte für Markus eine Berufslaufbahn als „Kaufmann“ vor.

Vater Heinrich legte nun allergrößten Wert darauf, dass seine Kinder durch Arbeit etwas Geld dazuverdienten. In den jüngeren Jahren war dies Hilfe bei der Feldarbeit der Bauern, so gab es für einen halben Tag Kartoffeln aufsammeln 5 Mark. Auch als Treiber bei einer Treibjagd verdiente Benni sich an einem Samstag im Herbst sogar 10 Mark und eine Erbsensuppe.

Dringenberg hatte in den 60er Jahren durchaus ausgeprägte Winter mit langen Schneephasen, vor allem aber war im Winter die Beweglichkeit eingeschränkt und der Weg zur Schule mühselig. Der Bus fuhr bereits um halb sieben und bis zum Schulbeginn war eine gute Stunde Leerlauf, die man aber zum Anfertigen vergessener Hausaufgaben nutzen konnte.

Das einzige Vergnügen im Winter war das Schifahren auf den Wiesen, was aber nur selten möglich war. Vater Heinrich hatte ein paar alte gebrauchte Skier aus dem Harz besorgt und die Stöcke gab es für kleines Geld von Quelle. Ansonsten war Benni als Kind in Dringenberg im Winter weitgehend von der Welt außerhalb des Heimatdorfes abgeschnitten.

Die Sommer in Dringenberg waren in den 60ern eher feucht und kühl, aber immerhin gab es in Heerse ein kleines Freibad, das bis zu Wassertemperaturen von 17 Grad auch genutzt wurde. Benni war zwar ein schlechter Sportler aber ein guter Schwimmer, dies kam im Schulsport leider nicht vor. In den 60ern waren in den Ferien häufig Feriengäste aus dem Ruhrgebiet in Dringenberg zu Besuch. Die Nachbarin hatte eine kleine Pension und die Gäste schätzten den preiswerten Aufenthalt und das gute Essen. In den langen Regenphasen der Dringenberger Sommer sah Benni die Ruhrgebietler in Regencapes über die Dorfstraße marschieren, irgendwas mussten sie ja im Urlaub anfangen. Ansonsten wirkten die Leute aus dem Ruhrgebiet viel gebildeter, erfahrener und sachkundiger als die Dorfbewohner und sahen mit einer gewissen Verachtung auf sie herab. Auch die Mädchen aus dem Ruhrgebiet, mit denen man gelegentlich im Freibad zusammentraf, waren in jeder Hinsicht weltoffener und versierter, was leider an Benni ziemlich vorbei ging.

An Sonntagen fuhr Benni gern mit dem Fahrrad ins acht km entfernte Bossen ins Kino, dort liefen die Edgar Wallace Krimis wie „Das Gasthaus an der Themse“ mit Joachim Fuchsberger und Klaus Kinski. Benni war schwer beeindruckt. Der erste James Bond Film wurde ihm allerdings verweigert, weil er noch keine 16 war und aus Wut darüber sah er sich nie einen James Bond Film im Kino an.

Auch wenn Dringenberg sehr katholisch war, gab es dort doch eine gewisse Toleranz dem Alkohol gegenüber. Am 1. November 1965 verabredete sich Benni mit ein paar Freunden zum gemeinsamen Betrinken. Jeder sollte zuhause etwas Alkohol abzweigen und mitbringen. Das Trinken erfolgte in wenigen Minuten zumeist auf Ex und während die Dringenberger Katholiken mit Pfarrer Balkenhol singend auf dem Friedhof weilten, torkelten Benni und seine Freunde über die nassen Wiesen. Was folgte, waren Übelkeit, Schlaflosigkeit und schrecklicher Durst, man musste sich auch an sowas erst gewöhnen.

Von Bennis Großeltern lebten nur noch die Omas, die Großmutter mütterlicherseits bis zu ihrem Tode im Sommer 62 bei der Familie Furstpaul. Als sie starb, wurde ihre Leiche bis zur Beerdigung im Wohnzimmer aufgebahrt, an den süßlichen Leichengeruch wird sich Benni wohl bis zum Lebensende erinnern. Die andere Großmutter war mit ihrer Familie in die Sowjetzone deportiert worden und in den 60ern besuchte Benni zweimal mit der gesamten Familie seine Oma in der „sogenannten DDR“. Das waren tolle Reisen, es gab reichlich leckere Torten zu Essen und sogar etwas Alkohol. Außerdem besaß die Familie einen Hund, der sich sofort mit den Furstpaul Geschwistern anfreundete. Insgesamt wirkte die DDR keineswegs so armselig, wie dies immer geschildert wurde. Allerdings hingen überall große Transparente mit Aufschriften wie “Vorwärts für den Sozialismus“ oder „Dank Euch Ihr Sowjetsoldaten“. In der benachbarten Stadt Naumburg waren die sowjetischen Soldaten allgegenwärtig und im Wohnort seiner Großmutter Neidschütz fuhr am Sonntagnachmittag eine Panzerkolonne über die staubige Dorfstraße. Bennis Verwandtschaft, seine Onkels , Cousins und Cousinen arbeiteten alle in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, spöttisch auch Kolchose genannt.

Inzwischen hatte auch Bruder Markus unter massivem Druck seiner Lehrer den Weg aufs Gymnasium geschafft und er beendete 1964 die Sexta. Markus war ein einmalig begnadeter Mathematiker. In den Teenager-Jahren wurde der Druck durch Vater Heinrich, in den Ferien etwas Geld zu verdienen, immer größer. Dies Geld hatte gespart zu werden. Benni verdingte sich als Hilfsarbeiter in der Fabrik, in der auch sein Vater arbeitete, arbeitete auf dem Bau und später recht erfolgreich als Nachhilfelehrer in Latein. In den 60ern gab es auch kurzfristig eine Sozialleistung, die Schülern zugutekommen sollte, das sogenannte Pennälergehalt. Es betrug anfangs 35 DM, wurde danach auf 30 DM reduziert und kurz darauf von der ersten großen Koalition aus Ersparnisgründen ganz gestrichen. So bekam Benni genau einen Monat das reduzierte Pennälergehalt von 30 DM. Für die Nachhilfestunden gab es seitens des Internates 3 DM pro Stunde, sein langjähriger Hauptkunde, die Familie Kurz mit zwei Schulkindern, zahlte allerdings bereits großzügige 5 DM pro Stunde. Noch besser zahlte die Fabrik, in der der Vater Heinrich arbeitete, dort gab es auch schon über 5 DM pro Stunde. Am Anfang kamen Benni allerdings die 8 Stunden-Schichten unerträglich lang vor.

Im Jahr 1967 wurde das Fahrrad gegen ein Moped umgetauscht, es war ein sogenanntes Mokick der Fa. Kreidler, das sich von einem Moped mit Pedalen dadurch unterschied, dass es zum Antreten einen Kickstarter hatte. Es hatte 2,2 PS und fuhr 40 Stundenkilometer. Es kostete zwar nur 100 DM, war aber in einem ausgesprochen schlechten technischen Zustand. So funktionierten nur 2 der drei Gänge und bergauf musste Bruder Markus vom Soziussitz immer wieder absteigen und stückweise schieben. Aber für den täglichen Schulweg war dies Gefährt eine große Erleichterung. Benni hätte mit dem 1967 erworbenen Führerschein der Klasse 4 zwar auch ein schnelleres Kleinkraftrad, das immerhin 80 km/h schnell war, fahren dürfen, doch diese Gefährte der Firmen Hercules, Zündapp und Kreidler waren mit fast 2000 DM unerschwinglich teuer und ein wohlhabender Opa, der so ein Gefährt hätte bezahlen können, existierte leider nicht. Mitte der 60er erwachte dann auch die Männlichkeit in Benni, leider war er weder besonders kräftig, sportlich oder groß, sondern eher etwas übergewichtig, was ihn für die Damenwelt nicht besonders attraktiv machte. Der Tanzkurs, den er 1966 in Dringenberg besuchte, machte diese Erkenntnis überdeutlich.

Mit der Jugend von Dringenberg gab es in dieser Zeit ebenfalls Probleme und Benni wurde, ohne dass man ihm Gründe nannte, aus seinem Freundeskreis ausgeschlossen. Als er seinen ehemaligen Freund Wigbert, der auch das Gymnasium besuchte, auf dem Schulhof zur Rede stellte, bestritt dieser, mit der Aktion etwas zu tun zu haben, doch dies war wohl eine Lüge.

Wohltuend für Benni war, dass sein Bruder zu ihm stand und dass er wegen seiner guten Schulleistungen auf dem Gymnasium gut gelitten war. Überhaupt hatte Mutter Marga ihre drei Kinder so erzogen, dass sie unter allen Umständen zusammenhielten. Das galt sowohl für Bruder Markus als auch für Schwester Annegret.

In dieser Zeit lebten naturgemäß noch viele Weltkriegsteilnehmer. Die Sicht auf den Krieg war völlig unterschiedlich, viele der Älteren glaubten, dass die Deutschen damals Ihre größte Zeit gehabt hätten, sich nur beim Angriff auf Russland übernommen hätten Selbst der Kunstlehrer Winkelmann hatte offenbar den Krieg wie eine Art Geländespiel erlebt und prahlte damit, dass man sich die amerikanischen Radpanzer zum Abschuss ausgelost hätte. Es gab allerdings auch Kriegsteilnehmer wie den Herrn Puschmann, die vor den Nazis größte Abscheu empfanden und die Grausamkeiten des Krieges realistisch schilderten. Vater Heinrich war von 1936 an Soldat und Kriegsgefangener gewesen und ihm lag Kriegsromantik ebenfalls fern.

Was in Deutschland im Dritten Reich und während des Krieges passiert war, war in den 60er Jahren kein Thema im Geschichtsunterricht. In einer Dokumentarsendung des Hessischen Rundfunks erfuhr Benni erstmals durch drastische Schilderungen von Augenzeugen von den Massenhinrichtungen in den Gaskammern und den furchtbaren Verbrechen in den Konzentrationslagern. Deutschland schien diesen wunden Punkt seiner Vergangenheit möglichst schnell hinter sich zu lassen und vergessen zu wollen.

Die letzten Jahre auf dem Gymnasium vergingen erstaunlich schnell, Benni behielt seine guten Leistungen bei und beendete die Oberprima als Klassenprimus. An den Wochenenden besuchte er die Dorffeste der Umgebung und trank regelmäßig und manchmal zu viel Alkohol. Auch wenn sein Moped nicht gut funktionierte, war es doch seine Verbindung zur Welt außerhalb von Dringenberg.

In den 60ern gab es auch eine komplett neue Musikrichtung. Bis 1962 war die Musik dominiert von deutschen Schlagern, die zumeist von Seemannsromantik oder von Mexiko handelten. Das Aufkommen der Beatles war eine Sensation und sofort folgten die Rolling Stones, die Byrds und Dutzende zumeist englischsprachiger Bands. Aus Deutschland gab es die Lords und die Rattles. Benni war sofort ein Fan dieser englischen Musik und sein Schulfreund Theo lieh ihm die Platten, die er dann auf Tonband aufnahm.

Mittlerweile hatte Benni die Chemie als sein Lieblingsfach gefunden und er beschäftigte sich auch privat in seinem Experimentierkeller damit. Für ihn stand fest, dass er Chemie studieren und Chemiker werden wollte. Und so endete nach einem kalten und schneereichen Frühjahr in Dringenberg die Schulzeit im schönsten Frühling 1969.

Eine große Enttäuschung lag allerdings noch vor ihm, sein Schulfreund Helmut, dessen Familie ein Wochenendhaus am 60 km entfernten Edersee besaß, hatte anlässlich des Abiturs einen Teil seiner Klassenkameraden zu einer Feier eingeladen, allerdings nicht Benni, mit dem er die letzten zwei Jahre regelmäßig Mathematik geübt hatte. Benni schrieb ihm danach einen Brief und Helmut schien dies Versäumnis wirklich leid zu tun.

Die Zeit bis zum Antritt des Studiums im Oktober verbrachte Benni mit viel Arbeit in der Glasfabrik, dem Arbeitgeber seines Vaters. Immerhin musste so das Geld für den anstehenden Führerschein verdient werden. Es gab aber auch Zeit für einen Urlaub mit dem Moped. Übernachtet wurde in Jugendherbergen und die maximale Entfernung von Dringenberg waren 130 km. Mit dabei waren Bruder Markus und Paul, der Freund der Familie. Nach dem Urlaub gab es noch einige warme Sommertage, die sie im Freibad in Heerse verbrachten. Dort lernte Benni sogar seine Sommerliebe Annalena kenne, mit der er sich in den folgenden drei Monaten regelmäßig traf.

Auch diese drei Monate gingen schnell vorüber und mit dem Führerschein in der Tasche trat Benni am 15 Oktober als Student der Chemie an der Universität Dortmund an. Die Fahrt mit Bussen und Bahnen von Haustür zu Haustür dauerte allerdings ganze 5 Stunden, die Entfernung war gerade einmal 120 km.

Im Dortmund war sein Jahrgang der erste komplette Chemiejahrgang von Studienanfängern. Entsprechend freundlich wurden sie von den Professoren der anorganischen Chemie begrüßt. Bei dieser Gelegenheit traf Benni auch seinen künftigen Studienkollegen Robert Beckmann das erste Mal. Robert war sehr groß, hatte eine athletische Figur und ein narbiges Gesicht. Robert wirkte auf den ersten Blick keineswegs freundlich und zugänglich. Kurz nach Studienbeginn ging auch Bennis Sommerliebe zu Annalena in die Brüche, was ihn sehr traurig stimmte.

Benni wohnte mit einigen seiner Studienkollegen in einem neuerrichteten Studentenwohnheim. Neben den Chemikern hatten auch die Raumplaner ihr erstes Studiensemester begonnen. Was genau Raumplanung bedeutete, wusste Benni nicht, allerdings waren unter den Raumplanern drei harte Kommunisten, die Herren Rothman, Schäfer und Miguel. Sie schrieben an ihren Flur in großen Buchstaben das Wort „Rotzplan“, was für „Rote Zelle Raumplanung“ stand. Benni und die Chemiker änderten die Beschriftung nach einer Chemiker-Feier allerdings auf „Rotzraum“. In dieser Zeit war unter progressiven Studenten Konsens, dass die Zukunft dem Kommunismus gehören würde und nur der Kommunismus in der Lage sein würde, die aufkommenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Nach der Uni gingen die jungen Chemiker gern in die umliegenden Kneipen des Dortmunder Vorortes Barop und wurden von den Ruhrgebietsrentnern neugierig beäugt. Diese waren keineswegs so besserwisserisch und herablassend wie die Sommergäste in Dringenberg.

Die Chemiker verbrachten in den Praktikumsräumen viel Zeit miteinander bei der Durchführung ihrer praktischen Übungen und die Bewohner des Studentenwohnheims feierten abends auf ihren kleinen Zimmern oder besuchten gemeinsam eine Kneipe. Im Studentenwohnheim gab es eine Gemeinschaftsküche und einen Speiseraum und für jeden Flur eine Gemeinschaftsdusche und eine Toilette. Immerhin war das Zimmer von der Zentralheizung gut beheizt. Und so endeten im Dezember 1969 die 60er Jahre. Der Dezember und der Jahreswechsel waren eiskalt und in Dringenberg lag jede Menge Schnee. Bennis Versuch, auf Silvester mit Ulla, der Freundin seiner Schwester anzubandeln, ging ebenfalls schief und so begannen die 70er Jahre wenig optimistisch.

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