Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Auf der anderen Seite des Spiegels

Auszug aus dem Text:

Mit den mündlichen Abiturprüfungen ging Roberts Zeit am Märkischen Gymnasium zu Ende. Er wurde in Physik und in Erdkunde geprüft. In der Erdkundeprüfung sollte er sich zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage in Guatemala äußern. Einige Monate vor diesem Termin hatte er sich mit den Romanen Pablo Nerudas beschäftigt, der zwei Jahre nach Roberts Abiturprüfung mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. In seinem kurzen Vortrag zu dem Thema hatte er, wo immer das möglich war, Aussagen zur Wirtschaft und Gesellschaft durch Zitate aus Nerudas Romanen belegt. Auf die Frage seines Erdkundelehrers, ob die Prüfungskommission noch weitere Fragen an den Abiturienten hatte, herrschte betretenes Schweigen. Offenbar hatte kein Lehrer einen Roman von Neruda gelesen. Die mündliche Prüfung in Physik verlief weniger souverän. Nachdem er eine Reihe unterschiedlicher Fragen aus der Mechanik und der Optik beantwortet hatte, sollte er die grundsätzlichen Unterschiede zwischen elektromagnetischen Feldern und Gravitationsfeldern erläutern. Er verzweifelte förmlich an der Fragestellung und es gelang ihm nur, die wesentlichen Eigenschaften dieser Felder zu beschreiben. Auf die Idee, dass die Prüfungskommission von ihm nur hören wollte, dass Gravitationsfelder immer zu einer Anziehung zwischen den Objekten führen und bei elektromagnetischen Feldern sowohl anziehende wie auch abstoßende Kräfte auftreten konnten, kam er nicht. Diese Unterschiede waren ihm zu trivial, als dass er sie hier ausdrücklich erwähnen wollte. Die Vorstellung, dass Gravitationsfelder den Raum krümmen und die Objekte ihren Weg entlang des gekrümmten Raums weiter fortsetzen, kannte er damals noch nicht. Mit der Frage, ob auch elektromagnetische Felder einen Einfluss auf die Geometrie des Raums haben, hatte sich zum damaligen Zeitpunkt noch niemand beschäftigt.

Nach den mündlichen Abiturprüfungen und noch vor Ausgabe der Abiturzeugnisse nahm Robert an einer von seinem Deutschlehrer organisierten Reise zu den Ruhrfestspielen in Recklinghausen teil. In der letzten gemeinsamen Aktivität vor dem Ende ihrer Schulzeit hatten die Abiturienten die Möglichkeit, sich in der Ausstellung Kunst und Spiel mit den Ideen zu beschäftigen, wie man Elemente des Spiels in Objekte der darstellenden Kunst einbringt. Robert war nach seiner letzten mündlichen Prüfung direkt zu einer Feier bei einem Mitschüler gefahren. Der ungewohnte Alkoholkonsum, auch wenn er sich nur an Bier gehalten hatte, und die Übermüdung hatten ihn daran gehindert, sich vor der Fahrt nach Recklinghausen zu duschen und umzuziehen. So hatte er nur die Zähne geputzt, sich ziemlich oberflächlich das Gesicht gewaschen und war in dem dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, die er zur mündlichen Abiturprüfung getragen hatte, in den Bus nach Recklinghausen gestiegen. Er gab ein jämmerliches Bild ab und fühlte sich ziemlich unwohl. In der Ausstellung dachte er aber nicht mehr an seine unpassende Kleidung, sondern stellte sich die grundsätzliche Frage, ob alle Spiele durch zufällige Entscheidungen bestimmt werden und sich diese Eigenschaft auf die reale Welt übertragen lässt.

Mit einem kleinen Festakt, in dem der Direktor des Gymnasiums den Abiturenten ihre Zeugnisse überreichte, endete ihre Schulzeit. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie vorher in einer langatmigen, durch endlose Zitate aus der klassischen Literatur gespickten Rede darauf hinzuweisen, dass für sie jetzt der Ernst des Lebens begönne und sie sich entsprechend zu verhalten hätten. Wie schön, dass er die Zeit bis zum Abitur offenbar nicht als ernsthafte Lebensphase angesehen hatte. Robert hatte das ganz anders in Erinnerung.

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