Auszug aus dem Text:
Die Bezirksregierung Weser Ems war in dem früheren Gebäude der Oldenburger Staatsregierung untergebracht. Seitlich neben dem Regierungsgebäude liegt der ehemalige Landtag des Großherzogtums, der von der Bezirksregierung als Kantine und wegen der zahlreichen größeren Räume für Besprechungen genutzt wurde. Auf der Rückseite des Gebäudekomplexes liegen die Dobbenteiche. Das Gebäude der Bezirksregierung, der ehemalige Oldenburger Landtag und die Hindenburgstraße umschließen an drei Seiten den Theodor-Tantzen-Platz. Durch diesen mit Rasenflächen und eine Kastanienanpflanzung gestalteten Platz verlaufen Fahrstreifen und Fußwege, die in einer überdachten Auffahrt am Haupteingang des Regierungsgebäudes vorbeiführen. An der Hindenburgstraße bietet sich den Besuchern das Bild eines mit Maßband und Winkelmessern angelegten Kastanienwaldes. Hier sollte Robert also arbeiten. Das Regierungsgebäude war während des Ersten Weltkriegs erbaut worden und verband die architektonischen Merkmale des Klassizismus mit denen des Jugendstils. Die Nutzung der Räume entsprach dem Verständnis dieser Zeit. In der ersten Etage waren die Diensträume des Regierungspräsidenten, seines Vertreters und die mit Stabsaufgaben betrauten Organisationseinheiten untergebracht. Robert wurde ein Büro in der vierten Etage zugewiesen, das nicht direkt vom Flur aus, sondern nur über einen Besprechungsraum erreicht werden konnte. Es lag aber in der Hauptachse des Gebäudes und gestattete aus dem Fenster einen weiten Blick auf die Kastanienanpflanzung in der Zufahrt zum Haupteingang.
Als Chemiedezernent war Robert Fachbeamter. Mit seinen Entscheidungen hatte er kaum Einfluss auf das Organisationsgefüge und die Verwaltungsabläufe im Regierungsbezirk. Personalverantwortung hatte er keine. Das änderte sich an den Tagen, in denen er die Dezernatsleitung vertreten musste. Diese Tage gaben ihm die Möglichkeit, seine Vorstellung von der Arbeitsweise des Dezernats in Entscheidungen umzusetzen. Allerdings löste er in seinem ersten Vertretungsfall bei seinen direkten Vorgesetzten und der Behördenleitung keine Begeisterungsstürme aus. Als Aufsichtsbehörde über die niedergelassenen Apotheken erhielt das Gesundheitsdezernat die Berichte der Apotheker, die als Ehrenbeamte des Landes die Apotheken ihrer Kollegen überprüft hatten. In Einzelfällen nahmen auch die Pharmaziedezernenten der Bezirksregierung an diesen Prüfungen teil. In einem Fall hatte die Prüfung ergeben, dass die technischen und baulichen Voraussetzungen nicht gegeben waren, um Arzneimittel in dem gesetzlich geforderten Umfang selbst herstellen zu können. Auch die Dokumentation über die als Betäubungsmittel abgegebenen Präparate war in einigen Punkten nicht plausibel. Ausgerechnet an dem Tag, an dem Robert die Dezernatsleitung vertreten musste, ging der Bericht des Ehrenbeamten über die erneute Prüfung dieser Apotheke mit der knappen Feststellung bei der Behörde ein, dass keiner der Mängel beseitigt war. Robert sah dies als einen klaren Fall an, in dem die Sicherheit der Bevölkerung mit der Arzneimittelversorgung nicht mehr gegeben war. Er griff zum Telefon und bat die zuständige Polizeiinspektion, die Apotheke zu schließen. Der Kommissar vom Dienst sah die Dringlichkeit der Maßnahme ein, schickte einen Streifenwagen zur Apotheke und ließ diese umgehend schließen. Nun sind durch die Polizei vorgenommene Apothekenschließungen seltene Ereignisse. Vermutlich konnten sich weder die Kunden, die die Apotheke verlassen mussten, noch der Apotheker oder der Bürgermeister, der von diesem über den Vorfall informiert wurde, an ein ähnliches Vorkommnis erinnern.
Die Seltenheit dieser Maßnahme hatte auch für Robert Konsequenzen. Kaum eine halbe Stunde nach der Apothekenschließung wurde diese durch die Polizei zurückgenommen und Robert hatte die Gelegenheit, den Regierungspräsidenten bei einer Rücksprache persönlich kennenzulernen. Der teilte zwar Roberts Einschätzung, dass die in der Apotheke festgestellten Mängel eklatante Verstöße gegen die Betriebserlaubnis darstellten, hielt eine sofortige Schließung durch die Polizei aber für unverhältnismäßig. Durch dieses Vorkommnis steigerte Robert seine Beliebtheit in der Bezirksregierung nicht, erwarb sich bei den Stellen, über die seine Behörde die Aufsicht führte, aber den Ruf eines mutigen Beamten, der notwendige Entscheidungen nicht aufschob. Immerhin hatte die von der Schließung betroffene Apotheke alle Mängel innerhalb von zwei Wochen beseitigt, so dass sich Robert wenigstens ein bisschen bestätigt fühlte.
Ein halbes Jahr, nachdem Robert seine Stelle im Gesundheitsdezernat angetreten hatte, gab es in diesem Dezernat einen planmäßigen Wechsel auf dem Posten des Rechtsdezernenten. Im Rahmen der Personalentwicklung wurden die Juristen in unregelmäßigen Abständen auf andere Posten gesetzt. Die dort gewonnenen Erfahrungen und die Leistungen, die sie auf den Posten zeigten, bestimmten dann die Chancen, mit denen sie sich auf höher bewertete Stellen bewerben konnten. Da die Juristen die Rechtsaufsicht über die der Bezirksregierung nachgeordneten staatlichen Ämter führten, war es gute Praxis, dass sie sich in den ersten Wochen ihrer neuen Tätigkeit bei diesen Ämtern vorstellten und sich einen persönlichen Eindruck von deren Arbeit verschafften. Udo Fels, der neue Rechtsdezernent bat deshalb die für diese Ämter jeweils zuständigen Sachbearbeiterinnen für ihn Besuchstermine bei den Ämtern zu vereinbaren. Dabei hatte er nicht mit dem hintergründigen Humor der Damen gerechnet. Sie wollten ihn mal so richtig in den April schicken und verständigten sich mit dem Landeskrankenhauses Wehnen, einer Klink zur Behandlung und Betreuung von psychisch Kranken, auf den 1. April als Besuchstermin. Allerdings kündigten sie der Klinik nicht den Besuch des neuen Rechtsdezernenten an, sondern teilten dem Landeskrankenhaus nur mit, dass sich bei ihnen jemand als Oberregierungsrat Fels vorgestellt habe, den sie zu ihnen schicken wollten. Den Hinweis im Telefonat, dass Herr Fels freundlich auftrete und einen harmlosen Eindruck hinterlassen habe, musste die Klink falsch verstehen. In der Vergangenheit hatte es immer wieder Einzelfälle gegeben, in denen das Gesundheitsdezernat nach Rücksprache mit dem zuständigen Amtsarzt, auffälligen Personen empfohlen hatte, sich im Landeskrankenhaus vorzustellen. Die Klinik erwartete nach dieser hinterhältigen Terminvereinbarung einen potenziellen Patienten. Als Herr Oberregierungsrat Fels als Patient empfangen wurde, verbat er sich diese Albernheit und fand sich nach seinen ersten energischen Worten zwischen zwei kräftigen Krankenpflegern wieder, die seine Arme mit einer Zwangsjacke fixiert hatten. Mit seinem Dienstausweis konnte er sich so nicht mehr ausweisen. Sein heftiger Widerstand gegen diese Maßnahme bestärkte die Pfleger in der Annahme, dass der vermeintliche Oberregierungsrat Fels keineswegs freundlich und harmlos war. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie sich davon überzeugen ließen, die Fixierung seiner Arme zu lösen und er sich als Beamter der Bezirksregierung ausweisen konnte. Der weitere Verlauf seines Besuchs war durch die Peinlichkeit des Empfangs bestimmt und verlief in einer eisigen Atmosphäre.
Nachdem er im Landeskrankenhaus auch erfahren hatte, wie er von der Sachbearbeiterin angekündigt worden war, beschwerte er sich bei der Dezernatsleiterin, stellte die Sachbearbeiterin wegen dieser Albernheit zur Rede und richtete für mehrere Wochen kein persönliches Wort mehr an sie. Beim Gedanken an seinen Besuch in der Klinik huschte den anderen Angehörigen des Dezernats aber immer wieder ein unterdrücktes Grinsen über das Gesicht. Einen Vorteil hatte der Vorfall dennoch. Jede Zwangseinweisung in das Landeskrankenhaus, die über seinen Schreibtisch lief, wurde mit äußerster Sorgfalt geprüft. Einen Fall, wie den von Gustl Mollath, der in Bayern rechtswidrig in der Psychiatrie untergebracht worden war, hätte er sicher verhindert.