Auszug aus dem Text:
Über viele Jahrhunderte waren die Zeitläufe der Geschichte wie ein großer Strom, der dem Gefälle der Landschaft folgt. Auch wenn es im Lauf der Geschichte immer wieder Turbulenzen gegeben hatte, waren sich die Jahrhunderte doch in vielem ähnlich. Die Moden wechselten, wie vom Barock zum Rokoko, aber die Strukturen der Welt und die Verhaltensmuster der Menschen bleiben weitgehend gleich. Das änderte sich mit dem Beginn des wissenschaftlichen Denkens in der Aufklärung und der darauf folgenden Industrialisierung. Mit dem Beginn der Moderne kam es in den entstehenden Industriestaaten zu rasanten Entwicklungen in den Wissenschaften, der Wirtschaft und der Kultur. Es entstanden die wissenschaftlichen und technischen Voraussetzungen dafür, dass die Menschheit aus der durch die Schrift bestimmte Kultur in eine durch Digitalisierung und Vernetzung geprägte Kultur eintreten konnte. Das veränderte alles.
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Schon vor dem Jahresende 2012 hatten Robert und Elke überlegt, wo sie die Zeit nach ihrem Arbeitsleben verbringen wollten. In Hannover wollten sie nicht bleiben. Das Leben in einer Großstadt bietet zwar viele kulturelle Möglichkeiten, aber das Zusammenleben mit vielen Menschen auf engem Raum empfanden sie wie den Aufenthalt im Gehege eines Zoos. Man konnte sich nicht sicher sein, ob man Besucher der Anlage oder ein Exemplar der ausgestellten Spezies ist. Berlin oder eine andere Großstadt kam aus den gleichen Gründen nicht in Betracht. Roberts Bruder Gunnar hatte kurz nach der Jahrtausendwende Ahlbeck besucht und festgestellt, dass die Villa Wartburg, die jetzt Villa Chrissi hieß, aufgeteilt in Eigentumswohnungen, zum Verkauf stand und vorgeschlagen, ihre frühere Wohnung zu kaufen. Eine Rückkehr an den Ort seiner Kindheit kam für Robert aber nicht in Betracht. Lieber wollte er in das Umland von Hannover ziehen, am besten in eine Ortsrandlage mit freiem Blick in die Landschaft. Das neue Haus sollte sich äußerlich in die Umgebung einfügen, innen aber wie eine barrierefreie Maisonettewohnung aufgeteilt sein. Elke wollte ein Arbeitszimmer im Erdgeschoss mit Blick in einen Rosengarten, Robert einen offenen Arbeitsbereich im Obergeschoss mit weitem Blick in die Landschaft. Alle Fenster sollten so angeordnet sein, dass sich die Lichtachsen im Haus kreuzen. Die Küche könnte klein sein und Ähnlichkeit mit der Teeküche in der Organischen Chemie der Universität Dortmund haben. Damit wollte Robert wieder an das Lebensgefühl in der Universität anknüpfen. Zum Ende seiner Assistentenzeit hatte ihn sein Doktorvater um einen Eintrag in der Kladde gebeten, in dem alle wissenschaftlichen Mitarbeiter nach Abschluss der Doktorandenzeit ihre Erfahrungen in einem Resümee zusammengefasst hatten. Robert begann seinen Eintrag mit einem Zitat aus der Grasharfe von Truman Capote: „Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre.“ Robert hatte erlebt, dass die wunderbaren Jahre für Wissenschaftler mit der Immatrikulation an der Universität beginnen. Nach einer Bauzeit von anderthalb Jahren konnten Robert und Elke in das neue Haus einziehen.
Die Wochenenden verbrachte Robert jetzt am Rand des Deisters. Am Freitagabend fuhr er mit dem ICE von Berlin nach Hannover und von dort weiter mit der S-Bahn nach Springe. Am Sonntagabend reiste er nach Berlin zurück. Eine S-Bahnstation an seiner Strecke war der Bahnhof Eldagsen-Völksen. Dort stiegen am Sonntag häufiger Ausflügler zu, die den Tag im Wisentgehege Springe, einem kleinen, von den Niedersächsischen Landesforsten betriebenen Tierpark mit heimischen Tieren, verbracht hatten. Meist hatte Robert einen Rollkoffer und eine Aktentasche bei sich, die er auf dem Rollkoffer befestigen konnte, wenn er im Zug stehen musste. An der oberen und unteren Rückwand der Aktentaschen befanden sich Reißverschlüsse, durch die der ausziehbare Griff des Rollkoffers gesteckt werden konnte. So konnte er sein Gepäck mit einer Hand am ausgezogenen Griff des Koffers unter Kontrolle behalten, während die andere Hand frei blieb, um sich an einer der Stangen im Gang der S-Bahn festzuhalten. Ein kleiner Junge, der mit seinem Großvater an der Station Eldagsen-Völksen zugestiegen war, sah sich die Verbindung von Roberts Reisegepäck mit Interesse an und fragte, ob durch die Art der Befestigung nicht der ganze Inhalt der Aktentasche durcheinandergeraten würde. Robert öffnete die Aktentasche und ließ den Jungen einen Blick hineinwerfen. So wurde sichtbar, dass die Rückseite der Aktentasche aus einer äußeren und einer inneren Lederschicht bestand, zwischen die die ausziehbare Stange des Koffergriffs geschoben war. Später, meinte der Junge, wollte er Erfinder werden und sich auch so nützliche Sachen ausdenken, wie diese Konstruktion. Robert freute sich über den aufgeweckten Jungen und fragte ihn, ob er den Sonntag mit seinem Opa im Wisentgehege verbracht hätte, Diese Frage hätte er besser nicht gestellt. Das Gesicht des Opas, offensichtlich so ein typischer, übergewichtiger Nerd in bequemen blauen Jeans, einem viel zu großen erdfarbenen Baumwollpullover und streng nach hinten gekämmten, leicht ergrauten Haaren, die mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, zischte Robert zu: „Ich bin die Mutter.“ „Oh, Entschuldigung,“ stammelte Robert und wäre am liebsten im Erdboden versunken, was in einer fahrenden S-Bahn natürlich ausgeschlossen ist. Die Mutter nahm ihren Sohn an die Hand, zog ihn hinter sich her und steuerte den entferntesten Punkt des Mittelganges im S-Bahnwagen an. Die Mitreisenden auf den umliegenden Sitzen hatten Roberts Gespräch mit dem Jungen und die entsetzte Reaktion der Mutter mitbekommen. Sie verzogen keine Miene. An ihren Augen konnte Robert aber erkennen, dass ein unterdrücktes Lächeln durch ihren Kopf huschte. Nie wieder würde Robert Mutmaßungen über Alter oder Geschlecht von ihm unbekannten Personen anstellen, nie wieder.