Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Horst im Wartesaal

Im Märkischen Gymnasium Iserlohn, dem Wartesaal zum richtigen Leben, war auch Horst inzwischen angekommen. Horsts Vater war 1965 mit seiner Familie aus dem Ruhrgebiet nach Letmathe im Sauerland gezogen. Dieser Ortswechsel war für alle eine einschneidende Veränderung: Mietwohnung im Dach-geschoss eines Zweifamilienhauses, somit engere Wohnverhältnisse, kein Garten, viel weniger Freiheitsgrade im persönlichen Umfeld als zuvor im Ruhrgebiet.

Für Horst stand der Schulwechsel an. Nach einer kurzen Episode auf dem Gymnasium in Hohenlimburg, auf dem er sich überhaupt nicht wohl fühlte, wurde er auf dem Märkischen Gymnasium Iserlohn angemeldet. Da Horsts Vater seinen Sohn als schüchtern und wenig kontaktfreudig einstufte, vereinbarte er mit dem Schulleiter des Märkischen Gymnasiums, dass Horst in den ersten Wochen der Eingewöhnung Unterstützung von einem Mitschüler erhalten sollte.

Das Märkische Gymnasium der sechziger Jahre bestand aus einem alten Turmgebäude mit Sternwarte und einem neueren Erweiterungsbau. Es war ein Jungengymnasium mit einem nicht mehr ganz so jungen Lehrerkollegium.

Morgens wurde Horst vom Vermieter, der parterre wohnte, im Pkw, Marke DKW-Junior, nach Iserlohn mitgenommen. Zurück ging es mit dem Bus vom Bahnhof aus.

In einigen Unterrichtsfächern des Märkischen Gymnasiums wurde mit Fachbüchern gearbeitet, die Horst von seinem alten Gymnasium her kannte, sodass der Einstieg in Iserlohn problemlos klappte. Auch mit seinen neuen Klassenkameraden kam Horst gut zurecht.

Horst besuchte fortan in Iserlohn die Untertertia. Er wählte den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig. Im Studium stellte Horst später fest, dass die mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung in Iserlohn ein gutes Fundament gelegt hatte.

Am prägendsten und lehrreichsten über die Jahre war der Physikunterricht. Ein sehr guter, engagierter, aber auch fordernder Lehrer, machte jede Physikstunde zu einem wissenschaftlichen Erlebnis. Sämtliche Themen wurden auf der Grundlage von Versuchen erarbeitet oder Prämissen dadurch verifiziert. Für die umfangreiche technische Unterrichtsvor- und -nachbereitung wurden Schüler als Assistenten eingesetzt. Alles klappte wie am Schnürchen und war für jeden wissbegierigen Schüler hochinte-ressant und praxisbezogen. Dabei blieb der Humor nicht auf der Strecke. Ein Zitat des Physiklehrers: „Einer spinnt immer, wenn zwei spinnen wird‘s schlimmer.“ Eines Tages hatte dieser Physiklehrer Sprachprobleme. Mit seinem Pkw war er beim Rangieren auf dem Schulgelände so unglücklich gegen einen Baum geprallt, dass er mit dem Gesicht aufs Lenkrad aufschlug und mehrere Zähne verlor. An dem Tag, als dieser Schaden behoben war, notierte Horst in sein Tagebuch: „Physiklehrer hat sein Gebiss wieder drin.“ Dieser geachtete und gerechte Lehrer ist hundert Jahre alt geworden, hat sämtliche Familienmitglieder überlebt und ist als „letzter seiner Sippe“ 2013 verstorben.

Ein in sich gefestigter, erfahrener und etwas eigener Chemie- und Mathematiklehrer begleitete Horsts Klasse über mehrere Jahre als Klassenlehrer bis zum Abitur. Hin und wieder wurde sein Hobby, das Angeln, thematisiert, was zu manch lustigem Moment führte. So soll ein dicker männlicher Brummer auf der zum Angeln benutzten Trockenfliege gelandet sein, um dann voller Enttäuschung wieder abzudrehen.

Der Mathematikunterricht lief recht trocken ab, was wohl auch in der Natur des Faches lag. Es handelte sich um viel Theorie: Differential- und Integralrechnung, geometrische Betrachtungen sowie Kurvendiskussionen rufen nun mal nicht unbedingt Begeisterung hervor. Dessen war sich der „Mathepauker“ sehr wohl bewusst. Zitat: „Ich lerne die Formeln auch nicht. Aber wenn ich sie brauche, weiß ich sie. In der Schule ist es genau wie im Himmel. Über einen Sünder, der Buße tut, herrscht mehr Freude als über 1000 Gerechte.“ Oder als ein Schüler während der Mathematikstunde dringend zur Toilette musste: „Ich verstehe ja, dass die Schüler rauchen wollen. Ich verstehe aber nicht, dass die es heimlich auf der Toilette tun. Das kann man ja gar nicht genießen. Da weiß man ja nicht, ob man ziehen oder drücken soll.“

Wenn die Schüler es zu arg getrieben hatten, kam es zu einem Wutanfall des Klassenlehrers. Der Täter wurde aus dem Unterricht gewiesen. Kurz darauf überwog aber schon das Mitleid und es erfolgte die Anordnung: „Holt den Knallkopp wieder rein!“ Nach solch einem Vorfall erklärte der Lehrer einmal, warum er niemals Volksschullehrer sein wollte. „Ich muss auch mal einen zum Rausschmeißen haben, ohne dass der dann gleich heult.“

Als sich die Gelegenheit bot, ließen die Schüler ihren Mathelehrer ins offene Messer laufen. Beim Vorrechnen einer Aufgabenlösung machte er einen Fehler. Horst und seine Klassenkameraden ließen ihn kommentarlos zu Ende rechnen. Dann machte einer die Probe und siehe da, das Ergebnis war falsch. Schließlich entdeckte der Lehrer die Ursache, wurde wütend und schimpfte, niemand hätte mitgerechnet. Bei so viel Interesse wollte er die Vorbereitungen für das Abitur streichen. Die Schüler sollten sehen, wie sie es schafften. – Das Kriegsbeil war schnell begraben. Nach der Unterrichtsstunde entschuldigte er sich beim Klassensprecher.

Vom Lerninhalt weniger trocken waren die Chemiestunden. Kleine, manchmal auch geruchsintensive Versuche belebten den Unterricht. Besonders interessant waren die Laborstunden. Dazu erschienen die Schüler im weißen Kittel und führten Analysen durch. Der Lehrer löste verschiedene Salze in einem mit destilliertem Wasser gefüllten Reagenzglas, notierte sich diese, und ließ den Inhalt von seinen „Laboranten“ ermitteln. Horst hatte einen Stoff nicht gefunden, woraufhin der „Laborchef“ ihm kurz zeigen wollte, wie einfach dieser doch zu ermitteln war. Die ganze Klasse hörte seinen Seufzer: „Das kann doch nicht sein!“ Nach vier Versuchen war die Substanz endlich nachgewiesen. Es stellte sich heraus, dass Horst während seiner Analyse zuvor eine Substanz eingesetzt hatte, die das Auffinden des gesuchten Stoffes erschwerte. Somit war der Chemielehrer rehabilitiert. An seiner fachlichen Qualifikation gab es sowieso niemals Zweifel. Mehrere Schüler hatten sich kleine Chemie-Lexika gekauft und von da an des Öfteren mal „eine Frage“, die stets ausführlich und korrekt beantwortet wurde.

Als es zu Beginn einer Chemiestunde furchtbar nach Schwefelwasserstoff roch, musste sofort Ursachenforschung betrieben werden. Hatte etwa in der vorausgegangenen Unterrichtseinheit irgendjemand eine Stinkbombe geworfen? Es wurde fieberhaft unter Tischen und Bänken gesucht. Horst entdeckte schließlich die Ursache. Der Gestank kam aus einem Abfluss. Hineingekippte Säure hatte durch chemische Reaktion für den Gestank gesorgt. Der Chemielehrer neutralisierte die Säure und die Schüler konnten wieder frei atmen.

All die kleinen Anekdoten, die sich tief in der Erinnerung der Beteiligten festsetzten, sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lernen zeitaufwendig und anstrengend war und gute Noten hart erarbeitet werden mussten. Das galt insbesondere für Horst: Aufbau und Eigenschaften von Elementen und Molekülen, Formeln, chemische Reaktionen, Prozessabläufe usw.

Frischer Wind in alt eingefahrene und verkrustete Strukturen kam in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre durch zwei junge Studienassessoren, die der Schule zugewiesen wurden. Einer mit den Fächern Biologie und Erdkunde, der andere mit den Fächern Deutsch und Geschichte. Vom Aussehen, Auftreten und der Art zu unterrichten hoben sie sich deutlich vom Lehrerbild der „alten Schule“ ab. Horst empfand für sie sogar ein wenig Bewunderung. Die beiden Neuen waren erheblich näher am Schüler als viele ihrer betagten Kollegen. Nach dem Prinzip – guter Unterricht lebt von der Mitarbeit und Leistung der Schüler – forderten sie neben ihrer eigenen Unterrichtsvorbereitung das Engagement jedes Einzelnen. Einer der beiden, der Deutsch- und Geschichtslehrer, unterrichtete in Horsts Klasse bis zum Abitur. Wie er viele Jahre später auf einem Klassentreffen zugab, hatte er in den letzten Jahren seiner Laufbahn die Haare dunkel gefärbt: „Für den Unterricht mit jungen Leuten, muss man alles tun, um selbst jung zu erscheinen.“

Auch dieser Pädagoge hatte so seine „Erlebnisse“ mit den „Pennälern“. Einer meinte, man müsse nicht alles wissen, sondern nur die entsprechenden Stellen im Buch kennen. Als ein anderer nach einem Besäufnis nicht in der Lage war, die wesentlichen Inhalte der vergangenen Deutschstunde zu wiederholen, lautete der Kommentar: „Tja, Sie sind entweder krank oder besoffen“. Ins Notenheft wurde erbarmungslos die 5 eingetragen. Der Übeltäter sprach in der darauffolgenden Stunde den Englischlehrer auf dieses „brutale Verhalten“ an, wohl um etwas Mitgefühl zu erwecken. Die knappe Antwort: „Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst!“ Damit war klar: niemals wieder betrunken zur Schule!

Als der Lehrer während der Besprechung einer Deutscharbeit die “unmöglichsten Aussagen“ aus einem Lektüretext ableitete, wurde er der Benutzung einer Interpretationshilfe überführt. Interpretationshilfen wurden fleißig von den Schülern gekauft. Kein Wunder, wenn das Thema einer Klassenarbeit über Goethes „Iphigenie auf Tauris“ im Originaltext folgendermaßen lautete: „Mir scheinen List und Klugheit nicht den Mann zu schänden, der sich kühnen Taten weiht. – O weh der Lüge! Sie befreiet nicht!“

„Aufgabe: Welcher Mensch, welche Welten verbergen sich unter diesen Ansprüchen? In welcher Welt leben wir?“

Eines Morgens erschien Horsts Deutschlehrer im schwarzen Anzug vor der Klasse, was ein erstauntes Raunen hervorrief. Seine Erklärung: „Sie brauchen nicht zu denken, dass ich eine Arbeit zurückgegeben habe. Nein, meine Frau hat mich seit Jahren bedrängt, den Anzug aufzutragen. Der verkommt sonst. – Wirklich, meine Herren!“

Neben den beschriebenen „Hauptakteuren“ in Horsts Schullaufbahn auf dem Märkischen Gymnasium gab es etliche Mitglieder des Lehrerkollegiums, die nicht so tief in der Erinnerung blieben.

Da unterrichtete der Geschichtslehrer, der nach seinem 40jährigen Dienstjubiläum kurz vor der Pensionierung stand. Ein drahtiger, hagerer Typ, der laut eigener Erzählung während seiner Kriegsgefangenschaft von seinen Kameraden zum Betteln auserkoren war, weil seine Gestalt am meisten Mitleid erweckte. Seine Erzählungen waren interessanter als sein Unterricht. Jede Stunde lief nach demselben Schema ab: Vorlesen von handgeschrieben Aufzeichnungen. Horst schrieb fleißig mit. Und wehe dem, der in der darauffolgenden Unterrichtsstunde die wesentlichen Inhalte nicht wiederholen konnte! Einmal wurden drei Sechsen verteilt.

Einige Aussagen bleiben unvergessen: Fast schon verzweifelt zu einem Schüler, der ihn nervte: „Wie heißen Sie?“ Der nannte seinen Namen: „Ja so sehen sie auch aus – man! “ Einem anderen Schüler empfahl er: „Ziehen Sie sich doch noch einen Weiberrock an, die langen Haare haben Sie ja schon!“ Als drei Holländer aus Almelo zu Gast in der Schule waren: „Der Amsberg ist doch sehr beliebt. Er ist Mecklenburger. Ich bin auch Mecklenburger.“ Für die Zukunft gab er den angehenden Abiturienten folgende Lebensweisheit mit auf den Weg: „Das Alter hängt vom Einzelnen ab. Es ist nicht nur ein biologischer Prozess.“

Im Fach Englisch empfand Horst in den höheren Klassen häufig Langeweile. Die Schüler hatten Abschnitte aus Lektüren vorzulesen und diese zu interpretieren. Manchmal verließ der Lehrer mit schmerzverzerrtem Gesicht den Klassenraum und bat um einen Augenblick Geduld. Vor der Tür wartete er ab, bis plötzliche Koliken abgeklungen waren. Einmal kam er mit einem blauen Auge zur Schule. Das hatte er sich beim Birnenpflücken zugezogen. „Aus acht Metern Höhe kam die Birne. Birne auf Birne!“ sagte er. Als ein Schüler sich erdreistete, während des Englischunterrichts in einem Tarzanheft zu lesen und zurechtgewiesen wurde, bemerkte ein anderer: „Da steht doch nur drin – Tarzan puff, bum“. Bemerkung des Englischlehrers: „Junge, wir sind doch nicht da, wo du denkst.“

Viel Energie im Kampf gegen die Monotonie erforderte das Fach Latein. Aus dem Lateinbuch wurden Kapitel der römischen oder griechischen Geschichte Satz für Satz mühsam in Zusammenarbeit aller Schüler übersetzt. Vokabeln waren zu pauken, die Begeisterung für das Fach hielt sich in Grenzen. Horst schloss das Fach in der Obersekunda mit der Note ausreichend ab. Mit dieser Note hatte man nach fünf Jahren Lateinunterricht das große Latinum erreicht.

Das Fach katholische Religion wurde interessant durch einen Religionslehrer, der als Zweitfach Physik studiert hatte. Mit Logik und wissenschaftlicher Akribie wurden Themen bearbeitet. Ein Fazit war z.B.: Jesus von Nazareth war nicht Sohn Gottes. Gott hat durch die Ereignisse lediglich auf sich aufmerksam gemacht. Zur Logik seines Denkens passte der folgende Witz, den der Religionslehrer als Aufgabenstellung an einen Schüler gab: „Ein Esel steht in einem Haus ohne Fenster und Türen. Wie kommt er heraus? …Ja, wenn du es nicht weißt, wie soll es dann der Esel wissen?“

Zu den theoretischen Fächern bot der Sport eine willkommene Abwechslung. Neben den Spielarten wie Hallenfußball, Sitzfußball, Basketball und Volleyball waren Geräteturnen und Bodenturnen auf der Tagesordnung. Für den Bereich Geräteturnen gab es in Horsts Klasse einen Spezialisten. Der war der König am Reck. Immer wieder wurde er von seinen Klassenkameraden angefeuert und bewundert, wenn er mehrere Riesenfelgen am Reck mit anschließender Landung vorführte. Diejenigen, die nicht so sportlich waren, bekamen auch ihre Chance. Der Wille zählte. Wer eine Übung versuchte, wurde durch Hilfestellungen unterstützt. Wenn es trotzdem nicht klappte, war immer noch eine Drei als Note möglich. Geräteturnen erfreute sich nicht solcher Beliebtheit wie Spiele. Das bekam der Sportlehrer zu spüren. „Schon wieder Geräteturnen. Dafür ziehe ich mein Sportzeug nicht an!“ waren die Worte eines Mitschülers. Eine Klassenbucheintragung war die Folge: „Der Schüler weigert sich, sich auszuziehen.“ Später las der Klassenlehrer die Eintragung und kommentierte: „Tja Jungs, das hätte ich auch nicht getan.“

Mit den beschriebenen Verhältnissen am Märkischen Gymnasium konnten alle Beteiligten leben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Eines Morgens herrschte furchtbare Empörung an der Schule. Ein ehemaliger Absolvent des Gymnasiums, der angeblich nie mit der Schule und seinen Eltern zurechtgekommen war, wollte einen Artikel im „Underground“ veröffentlichen. „Underground“ war ein neues überregionales Schülermagazin, das gegen autoritäre Lehrer und Schulen zu Felde ziehen wollte. Jeder Schüler sollte seine Lehrer an den Pranger stellen können. Die Vorwürfe des Ehemaligen waren: Unter den Lehrern gäbe es Schläger, Nervenbündel, die Sanatoriumsaufenthalte und Selbstmordversuche hinter sich hätten. Der Ruf des Gymnasiums sei so schlecht, dass Universitäten Abiturienten nicht aufnähmen. Die Lehrerschaft sei aufgespalten in zwei Teile, die alte Garde usw. Am Nachmittag desselben Tages wurde in der Chefredaktion angerufen. Der Artikel sollte verschoben oder ganz aufgehoben werden. In Horsts Klasse wurden die Vorwürfe heftig diskutiert und Punkt für Punkt widerlegt.

Der Rückblick bezog sich bisher schwerpunktmäßig auf die Lehrerschaft. In einer Schule arbeiten zwei Gruppen zusammen, Lehrer und Schüler. Was lässt sich über die Schüler zusammenfassen?

Horst war ein unauffälliger, solider und sachlicher „Pennäler“, der für seinen Lernerfolg hart arbeiten musste. Die Spielregeln des Schullebens hielt er ein. Der Hippieszene der Schülerschaft hielt er sich fern. Die „ganz normalen“ Klassenkameraden waren seine Freunde. So vielfältig wie die Lehrer waren erst recht die Schüler. Den Lehrern gegenüber saßen die unterschiedlichsten Typen: der unauffällige, der sachliche, der ausgeflippte, der vorlaute, der faule, der strebsame, der lustige, der begabte usw.

Es war die Zeit der sechziger Jahre, geprägt durch: Notstandsgesetze, Studentenunruhen, Beginn der Raumfahrt, Laser- und Atomtechnologie, Tanzkurse, Hippie- und Blumenkinder, Musikbands mit überwiegend englischen Songs wie „San Francisco“, „Massachusetts“ oder „All you need is love“, usw. Es herrschten Aufbruchsstimmung und Zuversicht.

Ihren Lehrern machten es die Schüler nicht immer leicht. Das Zeugnis der Reife gab es ja schließlich erst zum Schluss. Und mancher Pädagoge hätte es am liebsten nicht erteilt.

Einige Beispiele für den ganz normalen Wahnsinn in Horsts Schulalltag: Ein Mitschüler zieht eine Zahnbürste aus seiner Tasche. Mit der will er den Dreck von der Schule bürsten. Dem Direktor will er einen Zahn ziehen. Im Unterricht werden Schauergeschichten erzählt, um den empfindsamen Kunstlehrer „verrückt“ zu machen. Dies ist auch zu erreichen, indem mehrere Schüler mit dem Bleistift ständig auf ihren Schultisch klopfen. Beitrag eines Schülers im Philosophieunterricht: „Wenn nur noch kluge Menschen gezüchtet werden, dann gibt es ja keine mehr, die die Drecksarbeiten ausführen.“ Beim Besuch der Klasse in einem Kettenwerk findet der Firmenchef Propagandamaterial gegen den Kapitalismus. Im Gästeraum der Firma fordert er den Verteiler auf, sich dazu zu bekennen. Absolutes Stillschweigen und Hochspannung. Plötzlich bricht der Metallstuhl eines Schülers unter diesem zusammen und beide gehen zu Boden. Ein erlösendes Gelächter von allen Anwesenden hallt durch den Raum und entspannt die Situation.

Es gab lustige und traurige Momente. Folgende Übersetzung vom Deutschen ins Englische sorgte für viel Gelächter: Auf Deutsch: „Eduard I machte seinen Sohn, der zufällig in Wales geboren wurde, …“. Auf Englisch: …who had been borne in Wales by accident, …“. Ein neuer Schüler aus England, dessen Vater eine Anstellung an der Dortmunder Oper bekommen hatte, führte das „elegante “ Kaugummikauen ohne zu schmatzen ein. Bei der Nachahmung wurde Horst erwischt. Es ergab sich folgendes Gespräch: Lehrer: „Horst, kauen sie jetzt auch?“ Horst. „Ja, Herr Studienrat.“ Lehrer: „Mr. Horst aus Arizona kaut jetzt auch.“ Horst: „Herr Studienrat, ich komme aus Letmathe!“

Sehr traurig wurde es, als bei einem Mitschüler, der wegen einer Hüftgelenksentzündung im Krankenhaus lag, Krebs diagnostiziert wurde. Dieses Ergebnis teilte seine Mutter den Klassenkameraden, die ihren Sohn besuchten, unter Tränen mit. Sie sollten auf keinen Fall die Diagnose an ihren Sohn weitergeben. Der sei zu weich und könne die Last nicht tragen. Er sollte wieder ganz normal in die Schule gehen – bis zu seinem Tode.

Den Schülern wurde häufig schlechtes Benehmen vorgeworfen. Und in der Tat, wer als Lehrer nicht eine halbwegs raue Schale hatte oder sich nicht mit dem unreflektierten Verhalten oder gar Spott der „Pennäler“ arrangieren konnte, der hatte manches einzustecken und zu ertragen. Das „wirkliche“ Leben stand den Schülern ja noch bevor und die Schule war für manchen eine nicht so ernst zu nehmende Pflichtveranstaltung mit vielen kreativen Möglichkeiten.

Ein Schüler kam auf die Idee, eine Strichliste anzufertigen, wie oft der Geschichtslehrer in einer Unterrichtsstunde die Wortkombination „gesagt gehabt“ verwandte. Das konnte dieser natürlich nicht erahnen. Sein Kommentar, als er die Aktivitäten bemerkte: „Kindisch, jeden anzukreuzen, der drankommt.“

Der Arbeitseinsatz der Gymnasiasten, auch wenn es um ihre eigenen Interessen ging, war begrenzt.

Das Organisieren einer Klassenfahrt wurde zum Problem, weil sich niemand beteiligen wollte. Um Klassenkameradschaft und Disziplin in Horsts Jahrgang war es nicht gut bestellt. So eine Gruppe war es nicht wert, sich für sie einzusetzen.

Das bekam auch der Englischlehrer zu spüren. Er hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, mit Horsts Klasse eine Exkursion nach Straßburg zu unternehmen. Der Klassenlehrer war raus aus dieser Nummer. Seine Begründung: „Auf meiner letzten Klassenfahrt meldet sich ein Schüler wegen Krankheit von einem Tagesausflug ab. Als wir zurückkehren turnt der auf dem Dach der Jugendherberge herum und macht

Spökes. Das hat mir für immer gereicht.“

Leider sollte es dem Englischlehrer nicht viel besser ergehen. Als zwei Schüler in vier Stunden zusammen sechs Flaschen Wein getrunken hatten, musste sich einer übergeben und der Reisebus sofort anhalten. Beim Aussteigen fiel er wie ein nasser Sack in die Brennnesseln, die vor dem Bus standen. Später in der Jugendherberge wurde er dann erst einmal unter die Dusche gestellt. Das reichte dem Englischlehrer. Falls die kommende Nacht nicht absolut ruhig verlaufen würde, wollte er die Klassenfahrt sofort abbrechen. Das war zwar nicht nötig, aber Unruhe gab es noch genug: Ein Kurzsichtiger musste tagelang mit seiner Sonnenbrille herumlaufen, weil er seine Normalbrille verloren hatte. Ein anderer war mit Mückenstichen übersät. Der nächste war total erschöpft, weil er in neun Minuten die Treppen des Straßburger Münsters rauf und runter gelaufen war. Und zwei bekamen sich ernsthaft in die Wolle, weil der eine vom anderen den Zigarettenstumpen weiterrauchen wollte. – Horsts Klassenfahrt nach Straßburg ging dennoch regulär zu Ende.

Doch das Schulleben ist für Steigerungen immer offen. An einem Dienstag gab es einen lauten Knall im Nebenraum von Horsts Klassenzimmer. Was war geschehen? Die Schüler aus dem angrenzenden Klassenraum hatten bei einem jungen Lehrer, der bei der ganzen Schülerschaft als “Trottel“ verschrien war, in einem Schrank einen Knaller zur Explosion gebracht, mit einer Zigarette als Zeitzünder. Sein Kommentar soll gewesen sein: „An meiner Gutmütigkeit geht Deutschland noch einmal zugrunde.“ Wegen dieses Vorfalls wurde eine Konferenz einberufen. Die Missetäter erhielten vier Stunden Arrest. Ein Antrag, sie von der Schule zu verweisen, wurde abgelehnt. – Wenige Monate nach diesem Vorfall verließ der betroffene Lehrer das Märkische Gymnasium.

Derartige Aktionen waren natürlich der absolute Ausnahmefall. Vor den meisten Mit-gliedern des Kollegiums hatten die Schüler Respekt und wahrten Anstand ihnen gegenüber.

Je näher es auf das Abitur zuging, desto mehr öffnete sich die Schule außerschulischen Kontakten zu Firmen, Gerichten, kulturellen Einrichtungen, Künstlern, Mitgliedern der Stadtverwaltung sowie Freunden aus der Städtepartnerschaft.

Das reale Leben kam in den Fokus: Berufsberatung, Führerschein, Musterung.

Einen etwas „verwirrenden“ Einblick ins Studentenmilieu hatte Horst schon während eines Berlinbesuchs bekommen. Beim Betreten des Audimax der Universität geriet er in eine tumultartige Szene, als die Kommunarden Teufel und Langhans auf der Bühne erschienen.

Jetzt stand aber zunächst die Abiturprüfung an. Innerhalb einer Woche fand die schriftliche Abiturprüfung statt, mit Klausuren von vier- bis sechsstündiger Bearbeitungszeit.

Nach der schriftlichen Prüfung löste sich das geregelte Schulleben langsam auf. Verspätungen waren an der Tagesordnung. Einige verließen den Unterricht vor dem regulären Ende. Andere erschienen erst gar nicht. Einer von Horsts Klassenkameraden sollte sogar schon eine Arbeit aufgenommen haben.

Vereinzelt wurde der Abschluss der schriftlichen Prüfung gefeiert. Ein Mitschüler lud zu einer Gartenparty in den trockengelegten Swimmingpool seines Elternhauses ein. In der „Tiefe“ wurde fleißig getanzt. Als sich ein älterer Verwandter des Gastgebers dazu gesellte und von seiner Schulzeit erzählte, verfielen die Anwesenden in ein Trauma und spannen das verrückteste „Schul-Seemannsgarn“. Zum Abschluss führten zwei Klassenkameraden ein Wasserschlauchduell vor. Anschließend waren alle Teilnehmer wieder im Hier und Jetzt.

Horsts Schulkamerad, der Kaugummi kauende Engländer, dessen Vater Opernsänger war, veranstaltete eine große Grill-Party auf dem Anwesen seiner Eltern. In Haus und Hof wurde gefeiert. Auch der Klassenlehrer war eingeladen – und erschienen. Auf den Hobby-Angler wartete eine spezielle Aufgabe, ein Magnetangelspiel. Aus dem Fenster im ersten Stockwerk des Hauses musste er Blechfische aus einem Wasserbecken auf der ebenerdigen Terrasse erwischen und herausziehen. Und das mit einer mehrere Meter langen Angelroute, deren Schnur mit einem Magnethaken versehen war. Unter dem Beifall seiner Schüler erledigte er die Aufgabe mit Bravour.

Auch Horst hatte eingeladen. Die Feier lief aber etwas bescheidener ab. Im Wohn-zimmer seiner Eltern saß er mit seinen Klassenkameraden in großer Runde. Man erzählte sich Witze oder lustige Vorkommnisse aus dem Schulalltag, knabberte Salzgebäck und trank dazu Bier und Wein. Einigen Mitschülern war das zu langweilig. Sie feierten einfach draußen auf der Straße. Dort musste Horst später aufräumen. Der Alkohol war einigen in den Kopf gestiegen. Noch in hundert Metern Entfernung musste Horst den Glasbruch der Flaschen zusammenkehren. Trotzdem, die Feier hatte sich gelohnt.

Schließlich kam der letzte Schultag auf dem Märkischen Gymnasium Iserlohn. Eine schwer zu beschreibende Melancholie machte sich breit: Gefühle des Glücks, der Enttäuschung, des Abschieds, der Traurigkeit. Die letzte Chemiestunde, die letzte Religionsstunde, die letzte Geschichtsstunde, am Ende die letzte Deutschstunde. Horsts Klasse überreichte dem Deutschlehrer zum Abschied ein Buch, das zuvor für 1 DM bei Karstadt erworben worden war.: „Alles über ihr Haustier“. Ein Langhaardackel zierte den Umschlag. Der Beschenkte bedankte sich, das Buch sei durch die Unterschriften aller Schüler eine bleibende Erinnerung. Er wünschte den Schülern der Klasse alles Gute für die Zukunft. – Horst und seine Mitschüler verließen ihr Gymnasium. Einige trafen sich noch in der Stadt, andere gingen direkt nach Hause.

Wenige Tage später erfolgte die mündliche Abiturprüfung. Am 11. Juni 1969 erhielt Horst das Reifezeugnis.

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