Ein Internetroman von Leonard Lassan und anderen

Das Meer im Winter

Die früheste Erinnerung aus Roberts Kindheit war die an einen großen braunen Käfer, der über einen gepflasterten Gehweg lief, während er ihn durch die Lupe seines Vaters beobachtete. Unter der Lupe konnte er alle Details des Maikäfers erkennen, die feingliedrigen Füße mit ihren Widerhaken, die schwarzen Augen und die beweglichen Fühler, die wie kleine Antennen die Luft nach Duftspuren absuchten. Für einige Sekunden verharrte der Maikäfer an einem Punkt, um sich danach schnell weiter zu bewegen. Nach einer erneuten Pause klappte er die Flügeldeckel hoch, faltete die durchsichtigen Flügel auseinander und flog mit einem surrenden Geräusch aus dem Sichtfeld der Lupe.

Die anderen Erinnerungen aus Roberts frühester Kindheit waren Erinnerungen an Geschichten, die ihm seine Eltern oder andere Verwandte erzählt hatten. Häufig gab es zu den Geschichten Fotos, die Robert das Gefühl gaben, sich nicht an die Fotos oder die Geschichten, sondern an die Ereignisse selbst zu erinnern. Tatsächlich waren es alles Erinnerungen aus zweiter Hand, die er aus der Perspektive der Personen sah, die ihm die Geschichten erzählt hatten.

Es gab aber auch Spuren von Ereignissen, zu denen er keine Erinnerungen hatte. So war ein Zehennagel seines linken Fußes verkrüppelt und die Nasenscheidewand wies eine unnatürliche Schiefstellung auf, weshalb er meist durch den Mund atmete. Eine Erklärung für diese auffälligen Veränderungen könnte körperliche Gewalt sein, der er als Säugling oder Kleinkind ausgesetzt war. Auch seine Angst vor angedrohter Gewalt könnte eine Folge früher Gewalterfahrungen sein. Was er in den ersten Jahren nach seiner Geburt erlebt hatte, wird aber ein Teil der Vergangenheit bleiben, die sich nicht mehr aufklären lässt. Erst Jahre später, als er sah, wie liebevoll und empathisch andere Eltern mit ihren Kindern umgehen, fiel ihm auf, mit wieviel Distanz ihn seine Mutter behandelte und dass er seinen Vater nur in den Situationen als zugewandt erlebt hatte, in denen er ihm wissenschaftliche Zusammenhänge erklärt hatte.

Auch Roberts Mutter, Anni, hatte als Kind wenig Zuwendung erfahren. Sie wurde 1926 als ältere Tochter des Gärtnereibesitzers Heinrich Bade und dessen Frau Anna in Grabow, einem kleinen Ort im Kreis Ludwigslust in Mecklenburg, geboren. Zwei Jahre nach Annis Geburt kam ihre Schwester Maria zur Welt. Als Anni zehn Jahre alt war, erlitt ihr Vater einen Schlaganfall und wurde durch eine halbseitige Lähmung zum Pflegefall. Zwei Jahre später verstarb der Vater nach einem zweiten Schlaganfall. Die Gärtnerei wurde verkauft und die Familie versuchte das Erbe anzulegen. Im schwierigen Umfeld der noch nicht überwundenen Weltwirtschaftskrise wurde die Familie beim Verkauf der Gärtnerei betrogen und verarmte. Sie war danach auf staatliche Unterstützung angewiesen. Nach dem Verkauf der Gärtnerei war Roberts Oma mit ihren beiden Töchtern Anni und Maria nach Bützow gezogen. Da sich Roberts Oma für die Armut der Familie schämte, musste Anni seit ihrem 13. Lebensjahr alle Behördengänge übernehmen. Obwohl die Oma auf eine sehr sparsame Haushaltsführung achtete und manchmal als Köchin etwas hinzuverdiente, konnte sie die Folgen der Armut nicht verhindern. Es spricht für die Begabung und den eisernen Willen von Roberts Mutter, dass sie trotz dieser Verhältnisse die Realschule besuchte und erfolgreich abschloss.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Roberts Oma und ihre beiden Kinder von ihrer kinderlosen Schwester Marie und deren Mann Paul, die in Hamburg lebten, unterstützt. Roberts Mutter war häufiger dort, so auch im August 1943 beim verheerenden Angriff der alliierten Bomberflotte. Als der Zweite Weltkrieg endete, war Anni 18 Jahre alt und Bützow von der Roten Armee besetzt. Sie wurde, wie viele andere auch, zu Arbeitsleistungen verpflichtet. Über die Hilfen, die sie in dieser Zeit erfuhr, hat sie gelegentlich gesprochen. Über ihre Verletzungen und Demütigungen hat sie eisern geschwiegen.

Als sich die politischen Verhältnisse wieder normalisiert hatten, wurde sie zur Ausbildung als Bibliothekarin angenommen. In Neukloster lernte sie Roberts Vater Fritz kennen, der dort ein Studium zum Junglehrer aufgenommen hatte. Im August 1948, nach Beendigung ihrer Ausbildung, heirateten beide.

Die Eltern von Roberts Vater lebten in Wismar. Sein Großvater arbeitete bei der Reichsbahn in einem Stellwerk. Im Ersten Weltkrieg hatte er an der Westfront durch einen Angriff mit Giftgas schwere Vergiftungen erlitten. Die dadurch verursachten Lähmungen verschwanden nur langsam über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Mit seiner Arbeit war er zufrieden, zumal die Anstellung bei der Reichsbahn es ihm ermöglichte, neben den Gleisen ein kleines Stück Land zu pachten auf dem er Kartoffeln und Gemüse anbaute. Roberts Großmutter in Wismar war Hausfrau. Sie hatte bereits 1919 einen Jungen zur Welt gebracht, der wegen der schlechten Ernährungslage in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg ein schwächliches Kind blieb und noch in seinem Geburtsjahr an einer Virusinfektion, vermutlich der Spanischen Grippe, starb. Als Roberts Vater 1924 zur Welt kam, war die in Wellen auftretende Spanische Grippe bereits abgeklungen. 1927 wurde Irmgard, die Schwester von Roberts Vater geboren.

Roberts Vater war ein sehr guter Schüler. Die Großeltern konnten ihn sogar zum Gymnasium schicken, da er aufgrund seiner Leistungen vom Schulgeld befreit war. Von seinem Lohn als Bahnarbeiter hätte der Großvater das Schulgeld für Roberts Vater unmöglich zahlen können. Weihnachten 1939 erhielt er wegen seiner guten Leistungen einen Buchpreis aus den Mitteln des Böddeckerschen Testaments. Die Befreiung von der Zahlung des Schulgelds und der Buchpreis hatten aber nicht nur Vorteile. Auch die Waffen-SS wurde auf ihn aufmerksam und forderte ihn 1942 auf, sich ihr anzuschließen. Dies wurde mit dem Hinweis begründet, dass er bisher durch die Volksgemeinschaft unterstützt wurde und es jetzt seine Aufgabe sei, sich für sie einzusetzen. Das sah der Großvater, der kein Anhänger des Nationalsozialismus war, völlig anders. Da Roberts Vater seinen Kriegseinsatz nicht vermeiden konnte, er aber auf keinen Fall in die Waffen-SS eintreten wollte, meldete er sich noch am Tag nach dem Eintreffen dieses Briefes freiwillig zum Einsatz in der Wehrmacht. Vom Gymnasium erhielt er ein Abgangszeugnis, das als Ersatz für das Abiturzeugnis diente. Bei der Wehrmacht erkannte man den Zusammenhang zwischen seiner freiwilligen Meldung zum Kriegseinsatz und dem Schreiben der Waffen-SS. Nach einer kurzen militärischen Ausbildung wurde er als Melder an die Ostfront geschickt, später als vorgeschobener Beobachter der Artillerie in Italien eingesetzt. Dort geriet er 1944 in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde.

Nach den Lebenserfahrungen seines Vaters und Großvaters hätte man annehmen können, dass Robert eine pazifistische Grundeinstellung einnehmen würde. Das Gegenteil war der Fall. Nachdem ihm seine Oma Anna, die im Haushalt von Roberts Eltern lebte, Geschichten aus der griechischen Mythologie erzählt hatte, begeisterte er sich für Achilles, Odysseus und Jason, der mit seinen Argonauten im Kaukasus das goldene Vlies geraubt hatte. Am meisten beeindruckte ihn aber Alexander, der von Aristoteles als Hauslehrer unterrichtet wurde und später fast die ganze antike Welt erobert hatte. Diese Heldenfantasien mag man einem Vorschulkind nachsehen. Kein Verständnis hatten aber die Nachbarn dafür, dass er von ihrem vierrädrigen Handkarren die Vorderräder abbaute und mit seinen Spielkameraden ausprobierte, ob sich das so umgebaute Gefährt wie ein griechischer Kampfwagen bewegen ließ. Gezogen wurde es natürlich nicht von Pferden, sondern den kleinen Jungen, die sich in dieser Rolle ablösten. So konnte sich jeder auf dem wackeligen Wagenboden mal als griechischer Held fühlen. In einer Zeit, in der außer dem Bürgermeister und dem Arzt kein Zivilist in Ahlbeck über ein Auto verfügte, war ein hölzerner Handkarren ein wertvoller und äußerst nützlicher Besitz. Das Donnerwetter der Nachbar war entsprechend und Roberts Vater musste unter ihrer peinlichen Aufsicht die Vorderräder wieder anbauen.

Vom Balkon ihrer Wohnung aus konnte Robert, wenn sein Blick der Bismarckstraße folgte, das Meer sehen. Ihm fiel auf, dass von Schiffen, die am Horizont auftauchten, zuerst die Masten und Aufbauten zu erkennen waren und erst später der aus dem Wasser ragende Teil der Schiffsrümpfe. Diese Beobachtung passte nicht zu der Annahme, dass die Erdoberfläche eine flache Ebene ist. Sie musste gekrümmt sein, wie zum Beispiel die Oberfläche einer Kugel. Besonders groß konnte die Erdkugel auch nicht sein, da es nie lange dauerte, bis ein Schiff, von dem er zuerst nur die Masten sehen konnte, vollständig in seinem Blickfeld aufgetaucht war. Schon in der Antike gingen die Griechen von einer Kugelgestalt der Erde aus. Eratosthenes von Kyrene errechnete aus den unterschiedlich langen Schatten, den gleich große Stäbe am Tag der Sommersonnenwende in Alexandria und Syrene, dem heutigen Assuan, werfen, für den Erdumfang eine Länge von umgerechnet 41.750 km. Diese Länge ist nur unwesentlich größer als die tatsächliche Länge, die am Äquator 40.075 km und über die Pole 40.008 km beträgt. Aus seiner Beobachtung der Schiffe hatte Robert für die Erde aber eine viel zu geringe Größe angenommen. Das sollte Folgen haben.

Von seiner Tante Maria hatte er zu Weihnachten ein Buch über die Tiere Afrikas geschenkt bekommen. Es war ein richtiges Kinderbuch, mit kurzen Texten und prachtvollen, bunten Zeichnungen der afrikanischen Tiere. In ihm entstand der unbändige Wunsch, sich diese Tiere in ihrer natürlichen Umgebung anzusehen. Den Weg nach Afrika hielt er nicht für besonders weit. Aus seiner Beobachtung der Schiffe hatte er ja erkannt, dass die Erdoberfläche stark gekrümmt war. Groß konnte die Erde nach dieser Überlegung nicht sein. Im Text des Kinderbuchs stand, dass Afrika südlich von Deutschland und damit auch südlich von Usedom liegt. Es käme also zuerst darauf an, die Insel zu verlassen und danach in Richtung Süden weiterzugehen. Von seinen Eltern wusste Robert, dass eine Brücke die Insel Usedom mit der auf dem Festland gelegenen Stadt Wolgast verbindet. Hatte man Wolgast erreicht, würde sich alles weitere schon ergeben.

Die Enkeltochter ihrer Vermieter, die im Erdgeschoss der Villa Wartburg wohnten, hatte sich zusammen mit ihm das Buch über die Tiere Afrikas angesehen und war von seiner Idee begeistert, zu den wilden Tieren nach Afrika zu reisen. Die beiden Kinder trafen ihre Vorbereitungen für die Reise. Sie schmierten einige Brote, füllten Leitungswasser in eine Thermoskanne und nahmen neben Unterwäsche zum Wechseln noch eine Decke mit. Man weiß ja nie, ob es nicht doch nötig sein würde, auch mal im Freien zu übernachten. Selbstverständlich hatten sie auch das Buch über die Tiere Afrikas eingepackt. Mit dieser Ausrüstung machten sie sich auf den Weg. Zuerst ging es entlang der Strandpromenade von Ahlbeck nach Heringsdorf und dann weiter nach Bansin. Mit jedem Kilometer, den die Kinder gingen, wurden die große Einkaufstasche und der Rucksack, in dem sie ihre Ausrüstung verstaut hatten, schwerer. Da die Vorbereitung der Reise mit dem Zusammenstellen der Ausrüstung einige Zeit in Anspruch genommen hatte, waren sie erst kurz vor dem Mittagessen losgegangen und hatten Bansin am späten Nachmittag erreicht. Sie beschlossen, hier eine Rast einzulegen und machten sich über die belegten Brote her. Nach dem Essen waren sie müde und es begann dunkel zu werden. Heute würden sie also nicht mehr nach Wolgast kommen. Sie legten die Decke auf die Wiese am Rand der Dünen und beschlossen in Bansin zu übernachten. Dazu kam es dann nicht mehr. „Wer seid ihr denn? Sagt mal, wie ihr heißt!“ fragten sie die beiden Volkpolizisten, die über die Strandpromenade auf sie zukamen. Dass es sich bei den beiden Kindern um die Personen handelte, die ihre Eltern der Polizei als vermisst gemeldet hatten, nachdem sie kurz vor dem Mittagessen wie vom Erdboden verschwunden waren, konnten die Polizisten zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wissen. Mit ungläubigem Staunen hörten sie sich von den Kindern die Erklärung ihrer Reisepläne zu den wilden Tieren in Afrika an. Damals dachte noch niemand von ihnen daran, dass die Reisefreiheit einmal eine zentrale Forderung der Bürger an ihre Regierung werden würde.

Im September 1955 wurde Roberts Bruder Gunnar geboren. Das änderte vieles im Haushalt von Roberts Eltern. Da beide Eltern arbeiteten, kümmerte sich seine Oma jetzt vorrangig um das neue Familienmitglied und Robert war sich meist selbst überlassen. Mit großer Freude wurde deshalb die Nachricht des Kindergartens im Hause Beckmann aufgenommen, dass sie einen Platz für Robert hätten. Robert wusste nicht, was er davon halten sollte. Er kannte keine anderen Kinder, die in den Kindergarten gingen. Tatsächlich spielte er kaum mit anderen Kindern. Am liebsten unterhielt er sich mit den Erwachsenen oder beteiligte sich an ihren Arbeiten, wenn sie das zuließen. Jetzt sollte es also in den Kindergarten gehen. Robert war gespannt, was ihn dort erwartete und nachdem ihn seine Mutter am ersten Tag dort morgens abgegeben hatte, grenzenlos enttäuscht. Dort waren andere Kinder, viele Kinder. Mit keinem der Kinder konnte er sich über die Dinge unterhalten, die ihn interessierten. Meist setzten sie sich einfach auf den Boden und schichteten Bauklötze zu instabilen Mauern und hässlichen Häusern auf. Andere legten sich auf den Bauch und spielten mit kleinen Modellautos, als ob auf dem Linoleumboden winzige Straßen verliefen. Selbst die Bilderbücher, die der Kindergarten in einer großen Kiste verwahrte, mochte er sich nicht ansehen. Sie waren ziemlich zerfleddert und rochen unangenehm. Er war sich nicht sicher, ob der Geruch nach Linoleum oder der Geruch nach kaltem Essen überwog. Die Erzieherinnen, die von den Kindern aber auch von den Eltern, die ihre Kinder brachten, als Tanten angesprochen wurden, saßen meist zusammen und unterhielten sich, wenn sie nicht gerade damit beschäftig waren, das nach den Kinderbüchern riechende Essen zuzubereiten. Hier wollte Robert nicht bleiben. Höflich wartete er, bis die kleineren Kinder nach dem Essen zum Mittagsschlaf hingelegt wurden. Dann fasste er sich ein Herz, ging auf die Erzieherin zu, die er für die Leiterin seiner Kindergartengruppe hielt und sagte ihr, dass er sich alles angesehen hätte, es hier aber langweilig fände und lieber wieder zu seiner Oma nach Hause gehen würde. Als er sich von der Erzieherin mit Handschlag verabschiedet hatte, ging sie wohl davon aus, dass Robert dies nur spielte. Umso erstaunter war sie, dass er nicht nur durch den Haupteingang nach draußen ging, sondern den Kindergarten tatsächlich verließ. Auf dem Heimweg ging er bei der Arbeitsstelle seiner Mutter vorbei und sagte ihr, dass er sich den Kindergarten gründlich angesehen hätte, es dort aber sehr langweilig fand. Mit den anderen Kindern könne er nichts anfangen und auch die Tanten dort würden nichts machen, was ihn interessiert. Von dem Geruch der Bilderbücher und des Essens sagte er vorsichtshalber nichts. Danach ging Robert nach Hause zu seiner Oma und dem kleinen Bruder, der auch nicht gut roch, aber keineswegs so schrecklich wie die Bücher und das Essen im Kindergarten. Es war ein großes Glück für Robert, dass seine Eltern einen an der Selbstbestimmung der Kinder ausgerichteten Erziehungsstil pflegten. Wenn der Junge das so entschieden hatte, war das zu respektieren.

Robert war also wieder zu Hause bei seiner Oma, während die anderen Kinder von den Tanten im Kindergarten auf ihr Leben im Kollektiv vorbereitet wurden. Roberts Oma besaß nur eine Lesebrille, die noch aus der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise stammte. Längst hätte sie eine neue Brille gebraucht, deren Dioptrienzahl die zunehmende Weitsichtigkeit ihrer Augen korrigieren könnte. Dafür hatte früher das Geld gefehlt. Später, in den ersten Nachkriegsjahren, gab es dann kaum Möglichkeiten, eine Brille mit der richtigen Sehstärke zu bekommen. Für die Überschriften in den Tageszeitungen, die meist in größeren Buchstaben gesetzt waren, reichte ihre alte Brille noch aus, für den Text der Artikel aber nicht. Dabei war sie die gewissenhafteste Leserin der beiden Tageszeitungen, die im Hause von Roberts Eltern gehalten wurden. So kam es ihr gerade recht, dass Robert jetzt wieder zu Hause war. Sie zeigte Robert die Buchstaben in den Überschriften, erklärte ihm deren Aussprache und wie man die Buchstaben zu Silben und Worten zusammenziehen kann. Von ihr lernte Robert so die Grundzüge des Lesens. Auch später, als er bereits Grundschüler war, las er ihr Artikel aus den Zeitungen vor. Manchmal musste sich Robert von ihr Begriffe erklären lassen. So verstand er nicht, was mit dem Krieg an der Erntefront gemeint war. Von seinem Vater wusste er, dass an der Front auf Menschen geschossen wurde und er fragte seine Oma, wer an der Erntefront auf wen schießt und warum die Leute das überhaupt tun. Ihre Antwort, dass an der Erntefront auf niemanden geschossen wird, irritierte ihn. Worte wurden scheinbar in völlig unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Auch vieles andere war offensichtlich nicht so, wie es geschrieben wurde. Da der Blick von Roberts Oma auf die Welt noch im deutschen Kaiserreich geprägt wurde, wird es niemanden überraschen, dass Roberts Haltung zu den Inhalten der Zeitungsartikel deutlich von den Vorstellungen abwich, die von den Journalisten vertreten wurden. Es fiel ihm auch auf, dass die Artikel, die er seiner Oma bereits aus dem Neuen Deutschland vorgelesen hatte, nahezu wortgleich auch in der Ostsee-Zeitung standen. Einen Artikel zweimal zu lesen ist langweilig, aber eine gute Leseübung.

In der Schule hatte er die Fibel für die erste Klasse noch vor Ablauf einer Woche durchgelesen und eigene Bücher mit in die Schule gebracht, die er heimlich unter dem Schultisch lesen wollte. Das bemerkte seine Grundschullehrerin sofort. Sie erlaubte ihm, die Bücher auf den Tisch zu legen und weiterzulesen, wenn er alle der Klasse gestellten Aufgaben erledigt hatte. Bald hatte er eine Mitschülerin, auf die diese Regel auch angewandt wurde. Immerhin störten die beiden dann nicht mehr, wenn sie mit ihren Aufgaben fertig waren. Robert mochte diese Mitschülerin. Sie war die einzige in seiner Klasse, mit der er sich über alle die Themen unterhalten konnte, die ihn wirklich interessierten. Sie machten zusammen ihre Hausaufgaben und waren nach der Schule bald unzertrennlich.

Mit dem Eintritt in die Schule hatte er auch ein neues Vorbild gefunden: Leonardo da Vinci. Das Universalgenie der Renaissance, das als Maler, Architekt, Ingenieur und genauer Beobachter der Natur neue Maßstäbe gesetzt und die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit auf fast allen Gebieten weiterentwickelt hatte, beeindruckte ihn gewaltig. Im Vergleich dazu verblasste die Strahlkraft von Alexander, der die Welt nur erobert, dem Wissen seiner Zeit aber auf keinem Gebiet neue Erkenntnisse hinzugefügt hatte.

Roberts Grundschullehrerin hatte sich bei seinen Eltern darüber beklagt, dass der Junge immer wieder Fragen stellte, die sie nicht aus dem Stand beantworten konnte. Gab sie ihm eine Antwort, entwickelte er dazu Ideen, die in alle möglichen Richtungen führten. Der Junge hatte einfach eine blühende Fantasie. Was hätte sie erst gesagt, wenn Robert ihr von seinen Träumen erzählt hätte. Ein Traum verfolgte ihn immer wieder. Er ging mit seinen Eltern über den Kirchplatz vor der St. Petrikirche in Wolgast. Überall auf dem Kirchplatz waren Menschen, die in unterschiedliche Richtungen gingen. Als Robert die Hand seines Vaters losließ und sich umdrehte, um sich das Backsteingebäude der Kirche genauer anzusehen, waren plötzlich keine anderen Menschen mehr auf dem Kirchplatz. Als er sich wieder nach seinen Eltern umdrehte, waren auch sie verschwunden. Er stand völlig allein auf dem leeren Platz. In diesem Moment wachte er regelmäßig auf und war schweißgebadet. Bald kannte er den Traum so gut, dass er schon am Beginn dies Traums wusste, wie es weiter gehen würde. Nachdem er dem Lauf dieses Traums scheinbar endlose Male gefolgt war, wachte er am Ende des Traums nicht mehr auf, sondern träumte nur, dass er aufgewacht wäre. Er lag in seinem Bett, durch das Fenster fiel das für die frühen Morgenstunden charakteristische hellgelbe Sonnenlicht, während er die Vögel in den Bäumen vor seinem Fenster zwitschern hörte. Aber auch diese Wendung seiner Träume durchschaute er nach einigen Wiederholungen. Er überlegte, wo die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verläuft und ob sich alles, was die Menschen für die Wirklichkeit halten, nur in Träumen abspielt. Dann fiel ihm auf, dass sich seine Träume immer wiederholten, die Abläufe der Tage aber immer unterschiedlich waren. Nur ein Traum wiederholte sich nicht. Er war durch den Wald gestreift und auf einer Lichtung einer Gruppe Jugendlicher begegnet, die mit einer Axt einen keinen Baum gefällt hatten, aus dem sie mit ihren Fahrtenmessern Äste herausschnitten, die sich zu Knüppeln und Bögen weiterverarbeiten ließen. Sie stellte sich ihm in den Weg und bedrohten ihn. Er floh durch das Unterholz, durch das er sich wegen seiner geringen Größe viel schneller bewegen konnte als seine Verfolger. Als er sie nicht mehr hinter sich hörte, traf er auf einer weiteren Lichtung auf ein Reh, das keine Scheu vor ihm hatte und ihn auf seinem weiteren Weg begleitete. Seine Angst war auf einmal verschwunden. Robert wunderte sich. Ein Reh, das ihn nicht beschützen konnte, sondern eher auf seinen Schutz angewiesen war, hatte eine Situation entstehen lassen, in der er seine Angst verloren hatte. Diesen Traum verstand er nicht, obwohl er sich oft fragte, was er zu bedeuten hätte.

Roberts Großeltern lebten in Wismar. Das war von Seebad Ahlbeck keine Weltreise entfernt. Trotzdem konnte sich Robert nur an eine Reise zu seinen Großeltern erinnern. Dass sein Großvater ihre Familie einmal in Ahlbeck besucht hatte, wusste er nur aus den Erzählungen seiner Eltern. Robert mochte seinen Großvater, einen ruhigen alten Mann mit hintergründigem Humor. Seine Großmutter in Wismar blieb ihm fremd. Sie war immer irgendwie abwesend, auch wenn sie gemeinsam mit ihnen am Tisch saß. Erst viel später erfuhr er den Grund für die Distanz, die zwischen seiner Familie und den Großeltern bestand.

Als Roberts Vater in Italien in Gefangenschaft geriet, erfuhren die Großeltern in Wismar davon zunächst nichts. Sie bekamen von der Wehrmacht nur die Nachricht, dass ihr Sohn nach einem Angriff der Alleierten vermisst wurde. Nachdem sie monatelang nichts über den Verbleib ihres Sohnes erfahren hatten, verkauften sie alle seine Habseligkeiten, um für seine Schwester eine Aussteuer anschaffen zu können. Erst später erfuhren sie über das Rote Kreuz von seiner Gefangennahme. Als er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, gab es im Hause seiner Eltern kein Kleidungsstück oder irgendeinen anderen verwendbaren Gegenstand aus seinem persönlichen Besitz mehr. Nur einige Bücher, die sich offensichtlich nicht verkaufen ließen, waren als einzige Erinnerungen aus seiner Jugend übriggeblieben. Dass die Großeltern mit dem Verkauf seiner Habseligkeiten nicht warten konnten, bis das Schicksal ihres Sohnes geklärt war, war für Roberts Vater Fritz ein traumatisches Erlebnis, das sein Verhältnis zu ihnen zerstörte. Auch Roberts Mutter fühlte sich im Haus ihrer Schwiegereltern unwillkommen. Die Frage von Roberts Großmutter an seinen Vater, warum er diese Frau heiraten wolle, die hätte doch nichts, zerstörte das Verhältnis zwischen Roberts Eltern und seinen Großeltern in Wismar vollends. Es entstand eine große Distanz und man sah sich nur bei wenigen Gelegenheiten.

Eine dieser Gelegenheiten war der Besuch seiner Eltern mit ihm und seinem Bruder Gunnar bei den Großeltern in Wismar. Die Großeltern lebten dort in der Erdgeschosswohnung eines Reihenhauses, dass der Großvater noch vor der Weltwirtschaftskrise gekauft hatte. So viel Besuch bekamen die alten Leute sonst nicht. Neugierig beobachtete ein Nachbar aus der gegenüber liegenden Häuserzeile die Wohnung von Roberts Großeltern. Stundenlang stand er hinter der Gardine. Später schob er sie weit zur Seite, um besser auf die andere Straßenseite sehen zu können. Als er nach einer Weile mit einem Feldstecher zurückkam, ärgerte sich Robert so sehr über diesen neugierigen Nachbarn, dass er beschloss, ihm einen Schreck einzujagen. Sein Großvater hatte ihm für die Zeit ihres Aufenthalts in Wismar ein Luftgewehr gegeben, mit dem er im Hof auf die Holzlatten des Zauns oder Feldsteine aus der Einfassung der Beete schießen durfte. In Ermangelung von passenden Projektilen, musste er das Luftgewehr mit Erbsen laden. Mit diesem Luftgewehr kroch er unter das Fenster im Wohnzimmer, auf das der Nachbar seinen Feldstecher gerichtet hatte. Plötzlich stand Robert auf und legte auf den Mann an. Er konnte das Entsetzen in seinem Gesicht erkennen. Im Bruchteil einer Sekunde war er neben dem Fenster verschwunden. Eine halbe Stunde später klingelten Angehörige der Volkpolizei bei seinen Großeltern und durchsuchten die Wohnung. Sie schienen enttäuscht zu sein, an Stelle eines bewaffneten Täters nur einen übermütigen Jungen mit einem Luftgewehr zu finden, der dafür noch nicht einmal richtige Projektile hatte. So endete das Ganze für die Familie glimpflich. Robert wurde verboten, mit dem Gewehr auf Menschen zu zielen und sein Großvater ermahnt, auf den Enkel besser aufzupassen. Es war gut, dass die Volkspolizisten den Keller des Hauses nicht gründlich durchsucht hatten. Aus seinem Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg hatte sein Großvater eine Pistole mit nach Hause gebracht, die für die Kämpfe in den Schützengräben konzipiert war. Das wusste Robert nicht. Der Großvater hatte die Waffe im Keller versteckt und hätte sie in den unruhigen Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen zum Selbstschutz vermutlich auch benutzt. Den Polizisten hätte der Waffenfund einen Anlass geboten, seinen Großvater als Staatsfeind zu verhaften. Diese von ihm heraufbeschworene Gefahr war Robert damals nicht bewusst.

Auf der Rückreise von Wismar besuchten Roberts Eltern mit beiden Kindern seine Großtanten in Neu Karin und in Zahrensdorf. Die Großtante in Neu Karin bewirtschaftete mit ihrem Mann einen großen Bauernhof, dessen Gebäude sich um einen Teich verteilten. Auf der höher gelegenen Seite des Teichs lag das Bauernhaus mit den Stallungen und den anderen Wirtschaftsgebäuden, auf der gegenüberliegenden Seite des Teichs die Heuerhäuser, in denen die Leute wohnten, die auf dem Hof beschäftigt waren. Robert fand es hier wunderbar. Seine Großtante hatte spät geheiratet und nur eine Tochter, die als Nachkömmling nur zwei Jahre älter war als er. Mit ihr verstand er sich gut und es machte ihnen großen Spaß, die Tiere zu versorgen und mit ihnen zu spielen. Es gelang ihnen sogar, die Junghennen zu dressieren. Die von ihnen dressierten Hennen erreichten aber nicht die Fähigkeiten, über die ein von der Großtante dressiertes Schwein verfügte. Sie hatte das Schwein mit der Flasche großgezogen und es nicht übers Herz gebracht, das Schwein, das inzwischen gelernt hatte, Stalltüren selbst zu öffnen und auf ihre Kommandos hörte, schlachten zu lassen. Wie der Hofhund bewegte es sich frei zwischen den Gebäuden des Gehöfts und inspizierte neugierig alle Besucher. Die Verhältnisse auf dem Hof sollten sich aber bald ändern. Nur wenige Jahre später wurde der Bauernhof Teil eines volkseigenen Guts.

Nach wenigen Tagen in Neu Karin ging die Reise weiter zu Roberts Großtante in Zahrensdorf. Sie war eine warmherzige, in sich gekehrte Frau, die etwas melancholisch wirkte. Roberts Großonkel arbeitete, genauso wie Roberts Großvater, bei der Reichsbahn. Er wurde im Ersten Weltkrieg an der Westfront von marokkanischen Soldaten, die in der französischen Armee dienten, gefangen genommen und schwer misshandelt. Seine Ehe mit Roberts Großtante blieb kinderlos.

Wenn Menschen an ein Seebad denken, verbinden sie dies meist mit Sonne, Strand und Meer. Bei Seebad Ahlbeck, einem der drei Kaiserbäder auf Usedom, entsteht im Kopf der Badegäste auch das Bild der typischen Bäderarchitektur mit ihren Strandvillen aus der Gründerzeit. Auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vermittelte Ahlbeck noch eine Vorstellung vom Lebensgefühl des Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts und stand im krassen Gegensatz zum Selbstverständnis des real existierenden Sozialismus im Arbeiter- und Bauernstaat.

Im Sommer bestimmten die Badegäste das Bild. Es herrschte eine Atmosphäre, wie sie Jacques Tati in seinem Film „Die Ferien des Monsieur Hulot“ so unvergleichlich ins Bild gesetzt hatte. Sein Film hat aber auch die andere Seite eines Badeorts sichtbar gemacht, wenn der Ort ohne Feriengäste wie in einem tiefen Schlaf liegt und darauf wartet, von den Gästen mit ihren Aktivitäten zu neuem Leben erweckt zu werden. Robert konnte dem Strandleben nicht viel abgewinnen. Es war langweilig, Sandburgen zu bauen oder am Strand mit einem Ball zu spielen. Noch weniger gefielen ihm die Raufereien mit den Kindern der sächsischen Badegäste, zu denen es immer wieder kam. Die Sachsen waren bei den Einheimischen ziemlich unbeliebt, kam doch Walter Ulbricht, der mächtigste Mann der DDR, aus ihren Reihen. Alles, was die Einheimischen der Regierung anlasteten, übertrugen sie vom Regierungschef auf die Badegäste, die den gleichen Dialekt sprachen.

Wenn später im Jahr mit den ersten Herbststürmen der Wind so stark und böig wurde, dass man am Strand keine Drachen mehr steigen lassen konnte, kündigte sich mit den Zugvögeln schon der Winter an. Robert liebte diese Jahreszeit. Jetzt gehörte der Strand ihnen. Es gab keine Badegäste, keine Strandkörbe und kein organisiertes Strandleben mehr, dass sie durch ihre wilden Spiele stören könnten. Wenn die Temperaturen nach dem Jahreswechsel weiter fielen, wurden Eisschollen angetrieben, die vom Wind zu skurrilen Strukturen zusammengeschoben wurden. Der Strand bot jetzt ein ähnliches Bild, wie es Caspar David Friedrich in seinem Gemälde „Das Eismeer“ festgehalten hat. Robert und seine Freunde kletterten immer wieder auf den Eisschollen herum, auch wenn ihnen die Eltern das streng verboten hatten. Am Rand der zusammengeschobenen Schollen zum offenen Wasser versuchten sie mit einem Beil und langen Holzstangen einzelne Eisschollen zu lösen und sie als Flöße zu benutzen. Manchmal kletterten sie auf die aus dem Verbund gelösten Eisschollen und stießen sich mit den Holzstangen von den anderen Eisschollen ab. Das konnte nicht gut gehen. Bei einer dieser wagemutigen Aktionen, die jeder Erwachsene als unverantwortlichen Leichtsinn bezeichnet hätte, verlor Robert das Gleichgewicht und rutschte von der Eisscholle. Er stand bis zur Brust im eiskalten Wasser und hatte große Mühe, mit Hilfe der anderen wieder auf die zusammengeschobenen Eisschollen zu klettern. Der Heimweg bis zu ihrer Wohnung in der Villa Wartburg betrug nur wenige hundert Meter. Die eisigen Temperaturen und der Seewind reichten aber aus, das Wasser auf der Außenseite von Roberts Hose und seinem Anorak gefrieren zu lassen. Zu Hause angekommen schmerzten ihn die Vorwürfe der Eltern wegen seines leichtsinnigen Verhaltens mehr als die starke Erkältung mit hohem Fieber, die ihn für eine Woche ans Bett fesselte.

Im Winter begleitete er manchmal seinen Vater auf dessen Strandwanderungen, wenn der die Zugvogelarten und die Zahl der Exemplare, in der sie auftraten, in sein Notizbuch eintrug. Sein Vater erklärte ihm, dass Vögel ihr Verbreitungsgebiet als einen ungeteilten Lebensraum verstehen würden, völlig unabhängig von den Grenzen, die von den Menschen in diesem Gebiet gezogen wurden. Noch mehr als die Vögel beeindruckten Robert die Wale, als ihm sein Vater erklärte, dass sich Wale unter Wasser durch ihre Laute über viele Kilometer verständigen können. Er stellte sich vor, dass die Verständigung der Wale keine Grenzen kennt und alle Wale der Welt miteinander im Kontakt stünden. Kein Wal wäre einsam und sie könnten alles Glück mitfühlen, das einer von ihnen empfindet. Sie würden aber auch alles Leid wahrnehmen, das einem von ihnen widerfährt. Dieser Gedanke machte ihm Angst. Es erschien ihm unmöglich, dieses Übermaß an Gefühlen zu ertragen.

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